Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
plötzlich war draußen überall Lärm und Geschrei. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, ich glaube, er wußte es selbst nicht. Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen, aber er muß gewußt haben, daß er verloren war. Ich habe mich hinterher oft gefragt, warum er uns damals nicht erschossen hat, er hatte in diesem Moment nichts mehr zu verlieren. Oder vielleicht doch, weil er begriffen hatte, daß es schließlich nicht unsere Schuld war, ich meine…«, sagte sie und schaute zu ihm auf, um in seinem Gesicht zu lesen, ob sie sagen konnte, was sie sagen wollte, »daß die Leiche ebensowenig etwas mit uns zu tun hatte wie mit euch, oder mit wem auch immer. Ich hatte gesehen, daß er sie wieder vor unser Haus legen wollte, und…«
    »Da bin ich nicht so sicher«, fiel ihr Anton ins Wort. »Vielleicht wollte er sie ja bei Beumers vor die Tür legen. Dein Vater wäre vielleicht tätlich gegen ihn geworden, aber Herr und Frau Beumer, das waren alte Leute.«
    Karin seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Mit einem verzweifelten Blick schaute sie Anton an. In ihren Augen sah er, daß sie wußte, daß er nun hören wollte, was danach geschehen war, jedoch nicht danach fragen würde. Ruckartig schaute sie in eine andere Richtung, als suchte sie dort Hilfe. Als sie sie nicht fand, sagte sie:
    »Ach, Toni… Da muß ein Schlitz in der Verdunkelung gewesen sein, an der Tür zum Garten, durch den sie ihn mit der Pistole in der Hand gesehen haben. Plötzlich kam ein Schuß durch das Glas. Ich ließ mich auf den Fußboden fallen, aber ich glaube, daß er sofort getroffen wurde. Im nächsten Augenblick hatten sie die Türen eingetreten und schossen noch ein paarmal, mit auf den Boden gerichteten Karabinern. Als feuerten sie auf ein wildes Tier…«
    Weiß der Sonnengott keine deutlichere Umschreibung dieses Elends? Das war es also. Anton legte den Kopf in den Nacken, holte tief Luft und starrte auf das flatternde Spruchband hinter einem Reklameflugzeug, ohne etwas zu sehen. Der Demonstrationszug, in dem er hier marschierte, war weiter weg als ein Ereignis vor sechsunddreißig Jahren, bei dem er nicht dabeigewesen war. Und weiter weg als das Zimmer, in dem er mit Karin das Gänsespiel gespielt hatte, und in dem Peter durch einen Schlitz im Vorhang umgebracht worden war.
    »Und dann?« fragte er.
    »Ich weiß es nicht mehr genau…« Ihrer Stimme war anzuhören, daß sie weinte. »Ich habe nicht mehr hingesehen. Wir wurden sofort in den Garten gezerrt, als drohte uns noch mehr. Ich glaube, wir haben eine ganze Zeit lang in der Kälte gestanden. Ich erinnere mich nur noch an das Klirren von Glas, als sie bei euch die Fenster eingeschlagen haben. Es kamen alle möglichen Deutschen, die ins Haus liefen und wieder herauskamen. Dann sind wir über die Felder weggebracht worden, dort standen auch überall Autos. Wir mußten zur Ortskommandantur, aber ich hörte aus der Ferne noch den schrecklichen Knall, mit dem sie euer Haus in die Luft gesprengt haben…«
    Sie stockte. Anton erinnerte sich, daß er Korteweg in der Ortskommandantur gesehen hatte, als dieser über den Gang lief. Das Glas warme Milch, die Brote mit Schmalz… Er war ziemlich aufgewühlt, durcheinander (wie ein Zimmer, in dem die Einbrecher gewütet haben) und spürte zugleich auch das Fünkchen Glück bei dieser Erinnerung – das sofort verflog bei dem Gedanken an Schulz, und wie der am Trittbrett des Lastwagens auf den Rücken gedreht worden war… Er kniff die Augen zusammen und riß sie gleich wieder auf.
    »Seid ihr dann noch verhört worden?«
    »Ich wurde allein verhört.«
    »Hast du erzählt, wie es war?«
    »Ja.«
    »Was sagten sie, als sie hörten, daß Peter nichts damit zu tun hatte?«
    »Sie zuckten die Schultern. Das hätten sie sich schon gedacht. Die Pistole habe er wohl Ploeg abgenommen. Aber sie hätten inzwischen jemand anderen erwischt, sagten sie. Ein Mädchen, wenn ich richtig verstanden habe.«
    »Ja«, sagte Anton, »das habe ich auch gehört.« Er machte vier Schritte, bevor er sagte: »Jemand in deinem Alter.« Er dachte nach. Er mußte jetzt alles wissen und es dann für immer begraben, einen Stein darüber wälzen und nie mehr daran denken. »Eines verstehe ich nicht«, sagte er. »Sie hatten doch gesehen, daß Peter euch mit der Pistole bedrohte. Haben sie nicht gefragt, warum er das getan hat?«
    »Natürlich.«
    »Und was hast du gesagt?«
    »Die Wahrheit.«
    Er wußte nicht, ob er ihr glauben sollte. Andererseits

Weitere Kostenlose Bücher