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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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denn?«
    »Neunzehn.«
    »Sie ist schwanger, nicht wahr? Das sieht man an ihren Augen, mehr noch als an ihrem Bauch. Hast du noch mehr Kinder?«
    »Noch einen Sohn, mit meiner zweiten Frau.« Er schaute sich um. »Der muß hier auch irgendwo sein.«
    »Wie heißt er?«
    »Peter«, sagte Anton und sah Karin an. »Er ist zwölf.«
    Er sah, daß sie erschrak, und um ihr über ihre Verwirrung hinwegzuhelfen, fragte er: »Hast du Kinder?«
    Karin schüttelte den Kopf und starrte auf den Rücken der Frau vor ihr, die einen alten Mann im Rollstuhl schob.
    »Ich bin nie verheiratet gewesen…«
    »Lebt dein Vater noch?« Während er die Frage stellte, merkte er, daß darin eine sarkastische Anspielung mitschwang, die er gar nicht beabsichtigt hatte.
    Sie schüttelte wieder den Kopf.
    »Schon lange nicht mehr.«
    Schweigend schlenderten sie in der Menge nebeneinander her. Das Skandieren der Losungen hatte für einen Moment aufgehört. Von überall her war jetzt nur noch Musik zu hören, um sie herum sagte keiner ein Wort. Karin wollte etwas loswerden, aber er merkte, daß sie sich nicht traute, den Anfang zu machen. Peter… für immer siebzehn, wäre jetzt vierundfünfzig, und dieses Alter machte Anton mehr noch als das eigene bewußt, wie lange das alles her war. Und nun diese altgewordene junge Frau, die neben ihm ging, die ihn einmal erregt hatte und deren schöne Beine (mit der Stromlinienform von Flugzeugflügeln) jetzt sehnig und krumm geworden waren. Sie war es, die Peter vielleicht als letzte gesehen hatte. Ängstlich und zugleich erleichtert wie ein Autor, der weiß, daß er das letzte Kapitel seines Buches beginnt, sagte er:
    »Karin, hör zu. Laß uns nicht drumrumreden. Du willst es loswerden, und ich will es hören. Was ist an dem Abend genau passiert? Ist Peter zu euch ins Haus geflohen?«
    Sie nickte. »Ich dachte, er käme, um uns zu erschießen«, sagte sie leise, ohne den Blick vom Rücken vor ihr abzuwenden. »Weil… wir… weil wir das getan hatten…« Nur ganz kurz schaute sie auf: »Er hatte eine Pistole in der Hand.«
    »Die gehörte Ploeg.«
    »Das habe ich später auch erfahren. Plötzlich stand er im Zimmer, er sah schrecklich aus. Bei uns brannte nur ein Talglicht, aber ich sah, daß er völlig verstört war.« Sie schluckte, bevor sie weitersprach. »Er sagte, daß wir Schufte seien, und daß er uns über den Haufen schießen würde. Er war verzweifelt. Er wußte nicht, was er machen sollte, sie waren hinter ihm her, und er konnte nicht mehr aus dem Haus. Ich sagte, er solle sofort die Pistole wegwerfen, wir müßten sie irgendwo verstecken, denn wenn sie kämen, würden sie ihn womöglich für den Mörder halten.«
    »Und was hat er gesagt?«
    Karin zog die Schultern hoch.
    »Ich glaube, er hat mich nicht einmal gehört. Er stand nur da, fuchtelte mit der Pistole herum und horchte, ob von draußen etwas zu hören war. Und mein Vater sagte, ich solle den Mund halten.«
    Mit den Händen auf dem Rücken ging Anton langsam weiter, starrte auf das Straßenpflaster und runzelte kurz die Stirn.
    »Warum?«
    »Das weiß ich nicht, danach habe ich ihn nicht gefragt, und später wollte er nie mehr über diesen Abend sprechen.« Sie schwieg einen Moment. »Aber sie hatten Peter in unser Haus gehen sehen, sie würden das Haus durchsuchen und natürlich die Pistole finden. Dann wären wir sofort als Mitschuldige an die Wand gestellt worden, so war das damals doch. Erst untersuchen, wie sich die Sache genau verhält, das war ja wohl nicht drin.«
    »Du meinst also«, sagte Anton langsam, »daß es deinem Vater sehr gelegen kam, daß ihr von jemandem mit der Waffe bedroht wurdet, den die Deutschen für den Täter halten würden…« Und als Karin fast unmerklich nickte: »Aber damit hat er ihn in den Augen der Deutschen doch erst recht zum Täter gemacht.«
    Karin antwortete nicht. Schritt für Schritt wurden sie von dem trägen Strom mitgezogen. Aus einer Seitenstraße kam eine Gruppe kahlgeschorener, ungefähr sechzehnjähriger Jungen in schwarzen Lederjacken, schwarzen Hosen und schwarzen Stiefeln mit eisenbeschlagenen Absätzen. Ohne jemanden anzusehen, drängten sie sich quer durch den Demonstrationszug und verschwanden über die Brücke auf der anderen Straßenseite.
    »Und dann?« fragte Anton.
    »Nach einer Weile kam ein ganzer Trupp in die Uferstraße. Wie lange das gedauert hat, weiß ich nicht mehr. Ich hatte panische Angst, Peter hielt immer noch das schreckliche Ding auf uns gerichtet, und

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