Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Splitter der Granate erreicht haben.
Achtern schlug etwas dumpf gegen die Bordwand. Schatten huschten über das Deck. Gelähmt erkannte Singh den tödlichen Fehler, den er begangen hatte.
Der Passagier!
Kapitel 1
Leonard schoss hoch mit dem erstickten Schrei eines Scheintoten, der sechs Fuß unter der Erde in einem Sarg erwacht. Den letzten, verbliebenen Sauerstoff einsaugend, den das entsetzliche Gefängnis noch bereithielt. Seine Hand patschte auf das von seinem Schweiß durchtränkte Bettlaken. Diese Geräusche!
Mit aufgerissenen Augen, das Herz rasend, suchte er sich im Dunkel zu orientieren. Es musste mitten in der Nacht sein. Die Luft im Raum drückte herunter, begrub ihn mit dem Gewicht klatschnasser Wolldecken. Hinter der Wand am Kopfende des Bettes röchelte es. Oder war es in der Wand?
Ein Gedanke loderte auf wie ein Irrlicht in der Ferne. Jemand hatte ihn gewarnt.
Einer von ihnen ist hier. Er wird versuchen, dich zu töten.
Blind tastete er, fand einen Schalter. Das trübe Licht einer Nachttischlampe fiel auf kahle, fleckige Wände, einen rohen Tisch, einen Stuhl, ein hölzernes Gestell zum Trocknen der Wäsche. An der gegenüberliegenden Wand duckte sich ein Schrank.
Da drinnen lauerte jemand!
Für Sekunden hielt Leonard den Atem an. Nur eine Jacke über einem Bügel. Sein Blick wanderte zur Zimmertür. Darüber ein Oberlicht, schwarzes Rechteck, gähnende Dunkelheit dahinter. Neben der Tür ein Farbklecks, das Bild einer Tropeninsel: Visit Kusu Island. Rechts davon ein chinesischer Kalender, der behauptete, dies sei das Jahr des Hasen. Hinter dem Fenster, verdeckt von schmuddeligen Gardinen, hörte er hin und wieder ein Zischen. Wie Autoreifen auf Asphalt. Wo ...?
Das Telegramm. Seine Eltern. Hotel. Singapur.
Die Hitze verklebte ihm die Lunge. Schlaff hing der Deckenventilator in der Halterung. Er meinte, ihn eingeschaltet zu haben. Keuchend wälzte er sich vom Bett, öffnete das Fenster. Ein nur eben wahrnehmbarer Luftzug strich über die Haut, ohne ihm Kühlung zu verschaffen. Drei Stock unter ihm schlief die Straße. Keine Bewegung, kein Laut, wie eine Fotografie, nur ein Abzug der Realität.
Vor Jahren war er mit seinem alten Peugeot nach Bristol gefahren, in der Nacht. Meilen vor der Stadt hielt er an und setzte sich an den Fahrbahnrand. In der Ferne das Glimmen der Lichter, reflektiert als rötlicher Schein von tief liegenden Wolken. Noch aus dieser Entfernung hörte er sie, die Stadt. Das Gemisch von Verkehrsgeräuschen, unzähligen Stimmen aus Kehlen und Lautsprechern, Musik, Maschinen. Verdichtet zu einem leisen, gleichbleibenden, über die Landschaft heranwehenden Ton. Ein urbanes Rauschen, das Brummen der Zivilisation.
Hier, in der fiebrigen Hitze, im Herzen von Singapur, rührte sich nichts. Die Nacht stieß nur einzelne, kurze Laute aus, Knacken, Zischen, abgehackt, ohne Ursprung, wie aus einer anderen Dimension. Er fühlte sich in einer Zwischenwelt gefangen, die alles, außer ihn, zur Bewegungslosigkeit verdammte. Die tote Straße, dunkles Pflaster, stumme Gebäude, kam ihm bekannt vor und gleichzeitig, als sehe er sie zum ersten Mal. Die Apotheke. Er glaubte, gestern diese Straße entlang gehetzt zu sein. Oder schon vor zwei Tagen? Was war in der Zwischenzeit geschehen?
Der überfallartige Kopfschmerz. Die alte Frau. Der Kerl im Schatten des Arkadenganges.
Etwas hatte die Neuronen in seinem Gehirn umgestöpselt. Die fehlgeleiteten Impulse erzeugten nur Fragmente, ohne Sinn. Er zog an einer von der Decke hängenden Strippe. Erst träge, dann mit gleichmäßigem Flappen setzte sich der Ventilator in Bewegung. Es gab noch Leben in diesem Universum. Der Wirbel milderte die Hitze. Wehte ein Papier vom Nachtschränkchen, das dort zwischen seinem Pass, einem Flugticket und den Schlüsseln eines Mietwagens gelegen hatte. Das Telegramm! Sein Gedächtnis streikte, was die unmittelbare Zeit betraf. An die Stunde, in der er die Zeilen empfangen hatte, erinnerte er sich lebhaft.
Tiefer Winter . Mit Freunden hatte er Neujahr in Bristol verbracht. Eben nach London zurückgekehrt, blieb ihm gerade genug Zeit, Schal, Handschuhe und Jacke abzulegen. Stumm, mit sorgenvoller Miene überreichte Tante Audrey ihm den alarmgelben Streifen Papier. Telegramme setzte sie mit Todesmeldungen gleich. Gespannt wartete sie, flach atmend. Die Hände wie zum Gebet gefaltet, bereit, einen Schrei auszustoßen, sobald die schlechte Nachricht über seine Lippen kam. Leonards Hände begannen zu zittern und sie
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