Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Christus auf dem Turiner Grabtuch, die Darstellung eines dreizackigen Sterns. In seinem Zentrum und zwischen den drei Zacken vier Zeichen. Unmöglich, ihre ehemalige Form und Bedeutung zu entziffern. Behutsam entfernte ich die Lederriemen. Zu meinem Erstaunen enthielt das Fell einen Stapel Papiere unterschiedlicher Größe und Dicke, im Zaum gehalten von ausgefransten Baumwollfäden. An die zweihundert einzelne Blätter, einige davon seitlich herausgerutscht. Ich erkannte Satzfetzen, hingekrakelt mit fiebriger Hand: ... in der Lache seines eigenen Blutes herumwischte ... – ... klangen, als stammten sie von etwas Gestaltlosem, das nicht lebte ... – ... schierer Angst, eine weitere Nacht in diesen monströsen Bergen ...
Es lugten wirre Zeichnungen hervor, die Ecke einer Schwarz-Weiß-Fotografie, Ränder von Landkarten, ein vergilbtes Dokument mit dem blassroten Stempel eines Museums.
Wie die Initiale L.F. auf dem Fell andeuteten, erwies sich alles als der Nachlass eines Mannes namens Leonard Finney. Noch bevor ich die erste Zeile las, erfasste mich eine nie gekannte Unruhe. Das hier enthielt das Leben eines anderen. Der verschlungene Weg, auf dem es zu mir gefunden hatte, erschien mir bedeutsam. Obwohl der Bericht Ereignisse wiedergab, die mehr als zwanzig Jahre zurücklagen, weckte er in mir die Hoffnung, dass der Verfasser noch lebte. Meine Hände nicht zum zweiten Mal das Vermächtnis eines toten Mannes berührten. Mir blieb es versagt, das tragische Ende Korbmachers abzuwenden. Vielleicht gelang es mir bei Leonard Finney. Er dürfte in die Fänge eines ähnlich düsteren Geschicks geraten sein. Davon zeugten schon die ersten Satzfragmente. Der größte Teil der Aufzeichnungen stammte von Finney selbst. Es befanden sich auch ältere Dokumente darunter aus einer Zeit vor seiner Geburt. Die letzten Eintragungen hingegen trugen eine feinere, ich war versucht, zu sagen, weibliche Handschrift.
Ich stellte zunächst Recherchen an über den Urheber dieser eigenartigen Hinterlassenschaft und sie führten mich in die Stadt Bristol im Westen Englands. Dort war Leonard als einziges Kind der Eheleute Martha und Evan Finney aufgewachsen. Ein vorwitziges Gen verlieh seiner Haut einen unenglischen Braunton und die milden Züge eines Südländers. Im Kontrast dazu funkelten in seinem Gesicht smaragdgrüne Augen. Seine Eltern, beide anerkannte Psychologen, hatten einen guten Teil ihrer Kunst auf die Erziehung ihres Sohnes verwendet. Schon als Kind verstörte Leonard seine Umgebung mit der Behauptung, in ihm verstecke sich eine Stimme. Die er aber nicht verstehen könne, weil alles um ihn herum zu laut sei.
Über sein späteres Leben fand ich nur wenig heraus. Es deutete auf einen verzweifelten Kampf, in den er sich gegen diesen Ruf aus den Tiefen seiner Seele verstrickte. Er versteckte sich für Monate in der rauhen Einsamkeit der Orkney-Inseln, um die Worte zu vernehmen. Später verpflichtete er sich fünf Jahre bei der Royal Navy. Des Flüsterns überdrüssig, suchte er es mit dem Getöse des Militärdienstes zu überschreien. Die nächsten zwei Jahre verschwand er in Südamerika. Er hoffte, in der Ferne zu finden, was ihm in der Heimat versagt blieb. Nichts davon befreite ihn von der Qual.
Es gelang mir, eine ehemalige Geliebte aufzustöbern, eine Miss Deirdre Cullom. Auf ihre Art bestätigte sie meine bisherigen Entdeckungen.
„Ich wusste natürlich nicht, dass er so ´ne Macke hatte. Aber ich hab immer gespürt, wie er zwischen irgendwas hin und hergerissen wurde. Er vermittelte immer das Gefühl, man hat es mit zwei verschiedenen Personen zu tun.“
Die Stimme, die sie derb als Macke beschrieb, verstummte erst, als Leonards Eltern aus seinem Leben verschwanden. Im Spätsommer 1987 gaben sie alles auf und erwarben eine hochseetaugliche Yacht. Einem lang gehegten Wunsch folgend begaben sie sich damit auf eine Weltumsegelung. Zu jener Zeit wohnte Leonard, inzwischen zweiunddreißig Jahre alt, in London. Er pflegte seine Tante Audrey, die ein kurz zuvor erlittener Unfall vorübergehend in den Rollstuhl zwang. Miss Cullom besorgte mir ihre Adresse.
Als ich Leonards Tante aufsuchte, fand ich sie, mittlerweile achtzigjährig, bei bester Gesundheit. Eine elegante, alte Dame, in allem bemüht, zu bewahren, was sie für viktorianischen Lebensstil hielt. Sie erzählte mir, in jenen Tagen sei in Leonard eine spürbare Veränderung vorgegangen.
„Nach dem Aufbruch seiner Eltern schöpfte er neue Energie. Er sprach davon, ein
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