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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
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fühlte sich in ihrer Ahnung bestätigt.
Dringend. Stop. Treffen in Singapur. Stop. Hotel Old Empire, Kitchener Road. Stop. 6. Januar. Stop. Erwarte dort weitere Nachricht. Stop. Wir lieben dich. Stop.
Ohne die letzten Worte hätte das Telegramm Leonard zu einem Lachen verführt. Seine Eltern glaubten ernsthaft, diese simple Anweisung würde genügen. Dass er alles um sich herum vergaß und sofort nach Asien aufbrach. Ihre Beziehung zueinander verharrte auf der Stufe distanzierter Höflichkeit, Gefühle wurden in Worte gekleidet. Wo Gesten ausgereicht hätten, verfingen sich Martha und Evan in umständlichen Erklärungen. Und jetzt wollten sie ihn allein mit einem –Dringend- in ein Flugzeug locken. Vielleicht wussten sie eines ebenso gut wie Leonard selbst. In seinem Leben gab es nicht viel, das er hätte vergessen können. Aber es war der letzte, der einzige von Gefühl zeugende Teil der Nachricht, der ihn aufscheuchte, ihm befahl, die Abreise keine Minute hinauszuzögern.
Wir lieben dich.
Weil sie es nie schrieben, geschweige denn sagten. Seine Eltern liebten ihn. Auf eine verquere Art, die es ihnen unmöglich machte, diese Liebe auch auszudrücken. Was hatte sie veranlasst, ihm jetzt diese drei Worte zu schicken? Sie klangen wie ein Abschied!
    Die Schwüle der Tropennacht ertrug er nur, wenn er sich nicht bewegte. Er sackte wieder auf das Bett. Wo waren die letzten Tage geblieben?
Es liegt an diesem Hotel, dachte er. An diesem Zimmer. Es hielt ihn gefangen, verzehrte ihn, fraß seine Erinnerung. Mühsam fischte er Bruchstücke aus den Tiefen seines Gedächtnisses.
    Der Tag, an dem er in Singapur gelandet war. Der Nacken des chinesischen Taxifahrers. Der Rückspiegel, in dem der Ankunftsterminal des Changi Airports immer kleiner wurde.
„Sind Sie wegen Thaipusam gekommen?“, fragte der Fahrer.
„Nein. Ich treffe hier meine Eltern.“
„Aber das müssen Sie sehen. Ziemliches Spektakel. Thaipusam in Singapur ist einzigartig. Sind verrückt, die Inder.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Sie haben hoffentlich ein Zimmer. Während des Festes finden Sie nirgendwo ein freies Bett.“
„Old Empire. Kitchener Road.“
Besorgniserregend verzog der Fahrer die Mundwinkel.
„ Wu Ji . Nicht gut. Kein gutes Hotel.“
„Was ist damit?“
Plötzlich huschte das Taxi in den Schatten einer Brücke. Das Gesicht des Fahrers verdunkelte sich, in seiner Stimme vibrierte Angst.
„Gehen Sie nicht dorthin. Nehmen Sie ein anderes.“
„Zu spät. Das Zimmer ist gebucht. Außerdem ist doch dieses Thaipu-Fest.“
Nervös befingerte der Chinese ein Amulett, das an seinem Hals hing, sah sich verstohlen um, als beobachte sie jemand.
„Es ist ein altes Haus“, flüsterte er, „sehr alt. Viele Geschichten. Unglückliche Geschichten. Das Haus hat sie behalten. Sie sind noch dort, in den Zimmern.“
Spöttisch lächelnd lehnte sich Leonard vor.
„Falls das ein Spielchen ist, um Touristen zu erschrecken. Damit haben Sie bei mir keine Chance.“
Die Finger des Chinesen umkrampften das Amulett. Abrupt wandte er sich um.
„Es ist Ihre Entscheidung. Aber lassen Sie sich auf keinen Fall das Zimmer 300 geben.“
Vergeblich wartete Leonard auf eine Erklärung. Wieder auf den Verkehr konzentriert schwieg der Fahrer beharrlich.
„Also nicht das Zimmer 300?“, versuchte Leonard es noch einmal.
Keine Antwort. Es war, als sei er für den Chinesen nicht mehr vorhanden. Nach einer Weile hörte Leonard ihn vor sich hin murmeln. „300. Wu Ji . Kein Glück.“
    Die restliche Fahrt war aus dem Gedächtnis gelöscht. Nahtlos fügte sich das Bild der düsteren Eingangshalle des Old Empire-Hotels an. Knarrend schwang die hölzerne Tür zurück in den Rahmen und verbannte die Welt der Töne nach draußen. Um ihn herum breitete sich die Stille einer Gruft aus. Selbst die vier Ventilatoren an der Decke flüsterten mit ihren Flügeln. In der schmucklosen Halle verlor sich ein dicker, niedriger Rotholztisch. Zwei Ledersessel leisteten ihm Gesellschaft, die Haut rissig wie die von Hundertjährigen. In dieser geisterhaften Atmosphäre hielt Leonard den alten Chinesen hinter der Rezeption im ersten Moment für tot. Zusammengekrumpelt lag der Mann auf einem Rattanstuhl, von dem wuchtigen Teakholz-Tresen halb verdeckt. Leonard stellte seine Tasche ab. Vom Geräusch geweckt sprang der alte Chinese behende aus seinem Stuhl.
„Mister Finney. Mister Finney“, krächzte er lachend. „Ah, Mister Finney.“
Wenn er sofort wusste,

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