Das Auge der Fatima
genannt? War das die Erkenntnis, oder war es die Einsicht? Sie hatte es schon wieder vergessen. Ach, wenn sie doch nur die Gelegenheit gehabt hätte, länger mit Moshe zu sprechen.
»Mama!« Erst jetzt merkte sie, dass Michelle ungeduldig an ihrem Ärmel zog. »Fahren wir wieder nach Hause?«
»Nein, Kleines, wir machen einen Ausflug«, sagte Beatrice und streichelte ihr liebevoll über den Kopf. »Beeil dich, Michelle, wir haben nicht viel Zeit.«
Sie half ihrer Tochter beim Anziehen des Reisemantels, räumte hastig noch ein paar Spielsachen in einen zweiten Beutel, und dann liefen sie gemeinsam den Flur zum Schlafgemach entlang, wo Ali ebenfalls damit beschäftigt war, Kleidungsstücke zusammenzupacken.
»Bitte warte draußen auf uns, Schatz«, sagte Beatrice und gab Michelle einen hastigen Kuss auf die Stirn. Die Kleine hatte sie auf eine Idee gebracht. Natürlich war es eine tollkühne, völlig verrückte Idee, aber vielleicht war es ihre einzige Chance, das Auge der Fatima wirklich in Sicherheit zu bringen. »Ali und ich müssen noch etwas miteinander besprechen. Wir kommen gleich.« Sie wartete, bis Michelle die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann wandte sie sich an Ali. »Wohin wollen wir fliehen?«
»Nach Isfahan«, antwortete Ali, während er ein paar Bücher zwischen die Kleidungsstücke packte. »Saddin sagte mir, dass der Herrscher dort ein weltoffener, vernünftiger Mann sei, zu dem ich jederzeit flüchten könnte, sobald mir Gefahr droht.« Er warf Beatrice einen kurzen Blick .zu. »Hast du die Steine?«
»Ja«, sagte sie ungeduldig und deutete auf den Kasten, der auf ihrem Bett lag. »Und den von Michelle habe ich auch. Aber hältst du es wirklich für richtig, nach Isfahan zu gehen? Ich meine, wie sicher sind wir - und das Auge der Fatima - dort wirklich? Die Fidawi können uns überall aufspüren. Und der Herrscher kann jederzeit sterben oder gestürzt werden.
Was ist, wenn sein Nachfolger nicht so tolerant ist, sondern ein Fanatiker? Willst du dann wieder weiterziehen und um dein Leben fürchten?«
Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?«
Beatrice setzte sich auf das Bett. Ihre Wangen glühten vor Aufregung.
»Wir können dorthin fliehen, wo uns die Fidawi niemals finden werden, dorthin, wo wir wirklich sicher sind«, sagte sie und klopfte auf den Kasten. »Wir haben die Steine, Ali. Und wir können sie benutzen.« Ali sah sie an, als ob er kein Wort verstanden hätte. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber warum sollten wir nicht ...«
»Du meinst, wir sollten zusammen irgendwo anders hingehen?«
Beatrice ergriff seine Hände.
»Nein, Ali, nicht irgendwo anders«, sagte sie, »sondern nach Hause. Dorthin, wo Michelle und ich herkommen.«
Ali wurde bleich, und Beatrice war nicht ganz klar, ob es nun daran lag, dass er noch nie die Macht der Steine am eigenen Leib erfahren hatte, oder ob ihm der Gedanke an die Zukunft Angst machte.
»Und wie sollen wir das anfangen? Ich meine, wie kannst du sicher sein, dass die Steine uns genau dorthin bringen, wo wir hinwollen?«
»Jeder von uns nimmt einen Stein in die Hand. Und der Rest ist Gottvertrauen. Glaube ich wenigstens.«
»Hm.«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Ali. Ich bin bei dir. Ich werde dir alles erklären, was nötig ist, um sich bei uns zurechtzufinden. Außerdem weiß ich, dass es im 21. Jahrhundert keine Fidawi mehr gibt. Das Auge der Fatima wäre vor ihnen in Sicherheit. Und glaube mir, in meiner Zeit könnten wir den Frieden, den das Auge der Fatima verspricht, wirklich gut gebrauchen.«
Ali antwortete nicht gleich.
»Dein Vorschlag klingt wirklich verrückt, und doch scheint er der einzige wirklich Erfolg versprechende zu sein«, sagte er schließlich und schüttelte den Kopf. »Leg eure beiden Steine zu den anderen. Und dann lass uns erst einmal sehen, was passiert, bevor wir uns zu einem derart gewagten Schritt entscheiden.«
Vielleicht hegte Ali die kindliche Hoffnung, dass aus dem wieder zusammengefügten Auge Blitze hervorschössen, die alles Böse in der Welt vernichten und sich somit ihre Probleme mit einem Schlag in nichts auflösen würden. Sie würden ihr Leben weiterführen können und eine ganz normale Familie unter tausenden von normalen Familien sein. Eine wunderbare Vorstellung, doch Beatrice glaubte nicht daran. Das wäre zu einfach. Und wenn Gott sich alles so einfach gedacht hätte, hätte er seinen Sohn nicht ans Kreuz nageln und drei Tage später
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