Das Auge der Fatima
Überall in den Fluren, vor den Türen und auf dem Turm des Hauses standen bewaffnete Diener herum. Und selbst der Junge, der ihnen die Speisen brachte, trug an seinem Gürtel einen kleinen Dolch, als wäre jeden Augenblick mit einer Invasion zu rechnen. Vermutlich hätte Beatrice diesen Anblick als tröstend empfinden sollen, doch das Gegenteil war der Fall. Der Anblick der Diener erschreckte sie und erinnerte sie daran, wie ohnmächtig und schwach sie im Grunde waren. Wenn ein Fidawi einen Weg finden wollte, zu ihnen vorzudringen oder sie umzubringen, so würde er einen finden. Zur Not würden die Kerle einfach ihr Wasser vergiften. Ob drei oder dreißig Tote, das war solchen Menschen völlig egal. Hauptsache, die »Richtigen« waren dabei.
Sie nahmen gerade den letzten Bissen zu sich, als plötzlich Lärm zu ihnen drang. Beatrice erschrak derart, dass sie den Messingbecher losließ, der laut scheppernd zu Boden fiel, und das Wasser quer über den Tisch, über die Polster und ihre Kleidung spritzte. Auch Ali schien wie erstarrt. Atemlos lauschten sie dem Klirren von Waffen, den lauten, wütenden Stimmen und schließlich den Schritten schwerer Stiefel, die sich dem Speisezimmer näherten.
Ein Teil von Beatrice wollte den Raum so schnell wie möglich verlassen, fliehen, aus dem Haus laufen und versuchen in den verwinkelten und belebten Gassen der Stadt unterzutauchen. Doch der andere Teil mahnte zur Besonnenheit. Fidawi waren lautlos, heimlich. Der Meuchelmord war ihre Spezialität. Sie kamen in der Dunkelheit auf leisen, weichen Sohlen und nicht mit harten, eisenbeschlagenen Absätzen ähnlich den Stiefeln von Soldaten. Und wenn sie sich irrte? Wenn dies doch ...
Beatrice erstarrte. Die Schritte hatten vor der Tür Halt gemacht. Ihr Herz blieb fast stehen. Wenn sie sich geirrt hatte, dann war es jetzt zu spät. Dann war es vorbei. Ende. Aus. Game over.
Ali erhob sich. Es war ein verzweifelter, geradezu lächerlicher Versuch, sich dem Unvermeidlichen zu stellen, dem unabwendbaren Schicksal entgegenzutreten. Beatrice wollte ihn zurückhalten. Vielleicht konnte Besonnenheit sie retten. Vielleicht lauschten die Fidawi nur an der Tür. Wenn sie sich ganz still verhielten, gingen sie vielleicht einfach vorbei, ohne sie zu finden. Doch noch ehe sie etwas tun konnte, wurde die Tür aufgerissen.
»Herr, verzeiht, wenn wir Euch stören.« Die Stimme des Dieners dröhnte laut in Beatrices Ohren, und doch klang sie so lieblich wie der Gesang einer Nachtigall. Vor grenzenloser Erleichterung schloss sie die Augen. Auch Ali sank wieder auf sein Sitzpolster zurück. »Diesen Burschen hier haben wir vor der Hintertür zur Küche erwischt.«
Ein anderer Diener, rot vor Zorn und Empörung, kam herein. Hinter sich her zerrte er einen mageren Jungen, den er am Ohr gepackt hielt. Das Kind jammerte und stöhnte, bat mit schmerzverzerrtem Gesicht um Gnade, doch der Diener ließ nicht locker.
»Lass ihn los«, befahl Ali. Dann wandte er sich an den Jungen, der sich das blutunterlaufene Ohr rieb. »Was hast du hier zu suchen? Was hast du in meinem Haus verloren?«
»Herr, ich ...«
»Stehlen wollte er!«, rief der Diener empört, packte den Jungen am Arm und schwang eine große Suppenkelle, als wollte er sie dem Kind auf den Kopf schlagen. »Herr, über- lasst ihn mir, und ich prügle ihn so lange, dass er es für den Rest seines Lebens bleiben lässt, in die Häuser rechtschaffener Menschen einzudringen, um sie zu bestehlen.«
»Ich bin kein Dieb!«, rief der Junge entrüstet und riss sich los. »Ich bin ...«
Ali runzelte die Stirn. »Sag mal, du bist doch der Sohn des Hirten, den ich heute früh behandelt habe?«
»Ja, Herr.«
»Nun, meine Behandlung scheint von einem überraschenden Erfolg gekrönt zu sein«, sagte Ali spöttisch. »Offensichtlich hast du deine Sprache wiedergefunden.«
»Herr, ich ...« Der Junge wurde dunkelrot im Gesicht und senkte verlegen seinen Blick. »Es tut mir Leid. Ich ...«
»Dir tut es also Leid?« Ali war zornig. Und für einen Augenblick befürchtete Beatrice, dass er die Beherrschung verlieren, dem Diener die schwere Kelle aus der Hand reißen und den Jungen damit schlagen würde. »Was tut dir denn Leid? Dass du und dein >Vater< mich angelogen habt? Dass ihr zwei meine Hilfsbereitschaft ausgenutzt habt, um mich auszuspionieren? Dass du dich hinterrücks in mein Haus geschlichen hast?« Er holte tief Luft. »Vielleicht stimmt es und du bist wirklich kein Dieb, aber du bist ein abscheulicher
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