Dein ist das Leid (German Edition)
1. KAPITEL
Dezember
Manhattan
Amanda Gleason wiegte sanft ihren vor Kurzem geborenen Sohn in den Armen.
Ein neugeborenes Baby war wahrhaftig wie die Bestätigung des Lebens. Falls sie das nicht längst gewusst haben sollte, dann wusste sie es jetzt, in diesem Moment. Er war das Wunder, das sie selbst geschaffen hatte.
Und er war nun allein ihre Verantwortung.
Sie hatte nicht vorgehabt, eine alleinerziehende Mutter zu werden. Tatsächlich hatte sie überhaupt nicht gewusst, dass sie schwanger war, als Paul von der Bildfläche verschwand. Wenn sie das gewusst hätte, wenn sie es ihm hätte sagen können, vielleicht wäre dann alles anders gekommen.
Aber so war es nun mal nicht.
Und nun schien sie die gesamte Last der Welt auf ihren Schultern zu tragen. Ständig mussten Entscheidungen getroffen werden. Sie fühlte sich einem Druck ausgesetzt, den sie sich nie hätte vorstellen können. Jedes Mal, wenn sie Justin in ihren Armen hielt, überkam sie ein bittersüßer Schmerz.
Sie strich über sein flaumiges pfirsichfarbenes Haar. Während sie leise zu ihm sprach, riss er die Augen auf und schaute Amanda aufmerksam an, sichtbar gefesselt vom Klang ihrer Stimme. Sie blickte in diese Augen – er hatte die Augen von Paul –, und in ihrem Brustkorb zog sich etwas zusammen. Sie waren von etwas hellerem Braun als Pauls Augen, wahrscheinlich weil sie ihre wahre Farbe erst noch im Laufe der Zeit erhielten. Aber die Form, die Lider, selbst die dichten Wimpern – alles war genau wie bei Paul. Ebenso seine Nase, eine winzige Ausgabe von Pauls kühner, gerader Nase mit den schmalen Nasenlöchern. Er hatte sogar Pauls Grübchen in den Wangen. Außer dem goldbraunen Haar und dem kleinen Mund mit den geschürzten Lippen – beides hatte er von ihr geerbt – war er ganz der Vater. Obwohl gerade erst drei Wochen alt, entwickelte er schon seine eigene Persönlichkeit – unbekümmert wie Paul, wissbegierig wie seine Mutter. Er verbrachte Stunden damit, seine Finger anzustarren, ganz gebanntdavon, wie sie sich öffneten und schlossen. Und er schaute sich ständig um, offenkundig fasziniert von der Welt.
Gott sei Dank hatte er noch keine Ahnung, was für ein unwirtlicher Ort diese Welt in Wirklichkeit war.
„Ms Gleason?“ Eine junge Krankenschwester berührte sanft ihre Schulter. „Wieso holen Sie sich nicht mal was zu essen? Oder gehen spazieren? Das haben Sie den ganzen Tag noch nicht gemacht.“ Sie streckte die Hände nach dem Baby aus. „Justin ist hier in guten Händen. Sie müssen sich auch mal um sich selbst kümmern, sonst werden Sie nicht für ihn sorgen können.“
Amanda nickte benommen. Für einen kurzen Moment umklammerte sie Justin fast verzweifelt, dann küsste sie seine weiche Wange und übergab ihn der Schwester.
Wie oft hatte sie das in den letzten Tagen getan? Wie oft würde sie es noch tun müssen?
Mit Tränen in den Augen erhob sie sich und verließ den Isolationsbereich der Abteilung für Knochenmarktransplantation der Pädiatrie des Sloane-Kettering-Krankenhauses. Draußen legte sie den Mundschutz, die Latexhandschuhe und den Überzug ab und schmiss alles in den Mülleimer. Wenn sie zurückkehrte, würde sie den ganzen Sterilisationsprozess erneut durchmachen müssen. Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopf da, holte langsam und tief Luft, um sich selbst wieder in die Gewalt zu bekommen. Die Schwester hatte natürlich recht. Wenn sie zusammenbrechen sollte, könnte sie Justin erst recht nicht mehr helfen. Und sie war nicht mehr weit davon entfernt.
Sie ging den Flur entlang, trat in den Lift, fuhr hinunter ins Erdgeschoss. Die ganze Zeit fühlte sie einen körperlichen Schmerz, der auftauchte, wenn sie auch nur eine Sekunde von Justin getrennt war. Sie hasste es, ihn allein lassen zu müssen. Und jedes Mal fürchtete sie sich davor, zurückzukommen.
Die Welt außerhalb des Krankenhauses wirkte auf unwirkliche Art normal. Es war dunkel. Sie hatte seit Stunden nicht mehr auf ihre Uhr geguckt, aber es musste schon nach acht Uhr abends sein. Der Verkehr war immer noch dicht in New Yorks Straßen. Fußgänger schlenderten auf den Bürgersteigen. Autos hupten, Polizeisirenen in der Ferne. Die Weihnachtsbeleuchtung blinkte grün und rot und in allen Farben des Regenbogens.
Wie konnte alles so normal sein, wo doch ihre ganze Welt auseinanderfiel?Wo alles, was ihr wichtig war, da oben um das nackte Überleben kämpfte?
Ohne irgendetwas wahrzunehmen, holte Amanda ihr BlackBerry hervor und schaltete
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