Das Auge der Fatima
mittlerweile selbst Frau und Kinder, und auch er erzählt ihnen immer wieder von Euch.« Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte es doch nicht zulassen, dass Meister Osman Euch tötet. Selbst wenn ich jetzt kein Fidawi mehr bin und meine Familie nicht den versprochenen Lohn bekommt, falls ich bei einem meiner Aufträge sterben sollte.«
Ali nickte geistesabwesend und tätschelte Mustafa den Kopf. Beatrice war übel. Sie wagte nicht einmal sich vorzustellen, unter welchen Gewissenskonflikten der Junge in den vergangenen Stunden gelitten hatte.
»Nun gut«, sagte Ali und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Was sollen wir jetzt deiner Meinung nach tun?«
»Seid vorsichtig. Stellt überall Wachen auf, besonders auf dem Turm Eures Hauses. Er ist der schwächste Punkt. Doch am besten wäre es für Euch, die Stadt auf der Stelle zu verlassen. Bis zum Sonnenuntergang habt Ihr noch Zeit. Meister Osman ist die rechte Hand des Großmeisters. Wenn er in ein Haus gelangen will, dann schafft er es auch, ganz gleich, wie gut es bewacht wird.«
Ja, das war genau das, was Beatrice befürchtet hatte.
»Ich muss jetzt gehen, Herr, sonst wird Meister Osman misstrauisch. Vielleicht gelingt es mir, ihn noch ein wenig aufzuhalten, doch versprechen kann ich Euch nichts.«
»Wir danken dir, Mustafa«, sagte Beatrice und gab dem Jungen einen Kuss auf die Wange. »Du hast uns das Leben gerettet. Und ich bin sicher, dass Allah dich eines Tages dafür belohnen wird.«
»Ich werde die Diener rufen, damit sie dich aus dem Haus geleiten.«
»Nein, Herr. Ich gehe heimlich.«
Staunend sahen Beatrice und Ali zu, wie Mustafa sich auf das Fensterbrett schwang und dann wie eine Katze die Hauswand entlangkletterte und über die Dächer verschwand.
»Wer hätte das geahnt, dass mir dieser stinkende alte Ziegenbock einmal das Leben retten würde.« Ali schüttelte fassungslos den Kopf. »Wenn ich ihn nun damals geschlachtet hätte ...«
»Wunderbar und geheimnisvoll sind die Wege Allahs«, sagte Beatrice. »Aber was sollen wir tun? Sollen wir bleiben und versuchen uns zu verteidigen, oder sollen wir die Stadt verlassen?«
»Ich weiß nicht ...«
In diesem Augenblick klopfte es erneut an der Tür.
»Herr, verzeiht, doch ein Bote brachte diesen Brief.«
Der Diener reichte Ali ein zusammengerolltes Pergament. Er entrollte es, las und runzelte die Stirn.
»Was steht in dem Brief?«, fragte Beatrice.
»Die Antwort auf deine Frage.« Ali zerknüllte das Pergament zornig zu einer Kugel. »Der Emir schreibt mir. Die Beschwerden über mein anzügliches Verhalten häufen sich. Angesichts meiner Verdienste um seine Gesundheit gewährt er mir eine Gnade. Er gibt mir drei Tage Zeit, die Stadt zu verlassen. Andernfalls sieht er sich gezwungen, mich zu verhaften und in den Kerker zu werfen. Drei Tage.« Ali schnaubte wütend. »Wir werden nicht so lange brauchen, um unsere Habseligkeiten zu packen und den Staub dieser Stadt von unseren Füßen zu schütteln. Geh zu Michelle und packt alles ein, was ihr mitnehmen wollt. Wir verlassen Qazwin noch heute.«
Beatrice rannte beinahe zum Zimmer ihrer Tochter. Bis zum Sonnenuntergang. Es waren zwar noch ein paar Stunden, doch ein paar Stunden sind nicht viel, wenn man im Begriff ist, ein ganzes Leben hinter sich zu lassen. Sie riss die Tür auf. Ihr kleines Mädchen saß auf dem Boden und spielte mit ein paar Kugeln. Sie zuckte erschrocken zusammen und sah ihre Mutter aus großen, angstvollen Augen an.
»Michelle, zieh dich an und räum deine Spielsachen zusammen«, sagte Beatrice, während sie eine der Truhen öffnete, ein paar Kleider herausnahm und in einen Beutel stopfte.
»Fahren wir weg?«, fragte Michelle, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Sie wirkte wie paralysiert.
»Ja«, antwortete Beatrice und sah sich hastig im Zimmer um, ob sie etwas Wichtiges vergessen hatte. »Wo hast du den blauen Glücksstein?«
»Hier«, sagte Michelle, griff in eine Tasche ihres Kleides und reichte Beatrice den Stein der Fatima. »Fahren wir nach Hause?«
Beatrice betrachtete völlig in Gedanken versunken den Saphir. Dieser Stein hatte Michelle hierher gebracht. Er war der letzte, der noch fehlte, um das Auge zu vervollständigen. Er war traumhaft schön, ebenso wie die anderen. Und doch war er ein Individuum, hatte einen eigenen Charakter und eigene Kräfte - wenn sie Moshe Ben Maimon glauben wollte. Aber sie hatte keinen Grund, es nicht zu tun. Sie drehte den Stein zwischen ihren Fingern. Wie hatte der Rabbi ihn
Weitere Kostenlose Bücher