Das Auge des Kriegers
müssen, welche es ist.«
»Das ist Gorgans Auge«, sagte Thonensen bestimmt.
Nottr sah ihn erstaunt an. »Was weißt du darüber?«
»Nicht viel mehr als die Vision des Meisterritters. Erinnerst du dich?«
»Nein.«
»Gorgans Auge ist ein Eiland, das aus einem einzigen Berg besteht. Und dieser Berg ist ohne Spitze.«
Sie starrten auf den Horizont.
»Dort ist solch ein Berg«, bestätigte Burra.
Thonensen nickte zustimmend. »Gorgans Auge.« Er schüttelte den Kopf. »Wir wissen so wenig. Unser Vorhaben ist ein Wagnis ohnegleichen und widerspricht aller Vernunft…«
Nottr zuckte die Schultern. Er war froheren Mutes, nun da diese schreckliche Seereise ein Ende nahm. »Was uns an Wissen fehlt, machen wir mit Mut und Erfahrung wett. Und wir haben starke Verbündete.« Er deutete zum Himmel hoch.
Thonensen schüttelte besorgt den Kopf und nahm Nottr zur Seite.
»Fürchtest du nicht, tief in Horcans Schuld zu stehen?« fragte er eindringlich.
Nottr sah ihn stirnrunzelnd an. »Horcan ist kein Dämon«, begann er. »Er ist der Herr der Toten. Er vermag mir nicht mehr abzuverlangen, als ihm eines Tages ohnehin gehört: mein Leben. Wir wären längst bei den Fischen, wenn ich ihn nicht gerufen hätte.«
»Verspürst du nie Unbehagen, wenn du dieses Schwert in die Hand nimmst?«
Nottrs Faust schloß sich um Seelenwind. »Schon lange nicht mehr.«
»Auch nicht, wenn Horcan es führt?«
Nottr schwieg. Dann lachte er. »Auch dann ist es immer noch mein Arm.«
*
Sie erreichten die Insel am späten Nachmittag, als die Sonne längst wieder hinter den dunklen Wolken im Westen verschwunden war. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Im trügerischen Licht war es schwer, den Untiefen auszuweichen. Schroffe Felsen ragten aus dem Wasser. Es gab schmale Buchten. Der Inselberg ragte mächtig auf, mit immergrünen Bäumen bewachsen bis zum oberen Rand. Ein warmer Wind wehte über die Klippen.
An der Südseite gab es keinen Strand, an dem sie mit ihren Booten anlegen konnten, so umfuhren sie die Insel. Im Norden wurde das Land flacher, weniger steinig und dichter bewachsen, aber Nebel wogte dicht auf halber Höhe des Berges.
Es war kein freundlicher Anblick, aber es gab keinen an Bord der Boote, der nicht heilfroh gewesen wäre, den Fuß auf festes Land zu setzen.
Selbst als Thonensen warnend sagte, daß er dunkle Kräfte spüre, erwiderte Rujden nur schulterzuckend: »Seid ihr deshalb nicht hierhergekommen?«
Rujden schickte ein Dutzend seiner Männer aus, um die unmittelbare Umgebung zu erkunden. Dann schlugen sie in der hereinbrechenden Dunkelheit das Lager auf, wobei sie kleine Hütten aus Rudern und Häuten errichteten. Es dauerte eine Weile, bis das Feuer zu qualmen aufhörte und mit dem feuchten Holz gut genug brannte, daß sie den Kessel darüberhängen konnten. Doch die Trinkwasservorräte waren spärlich, und in der zunehmenden Dunkelheit fanden sie weder Quelle noch Bach. Deshalb floß der Opis nur spärlich in die durstigen Kehlen in dieser Nacht.
Die Kundschafter kehrten bald zurück. Sie hatten nichts Verdächtiges bemerkt, allerdings hatte die Dunkelheit sie zu frühzeitiger Umkehr gezwungen. Sie waren weder auf menschliche noch auf tierische Fährten gestoßen. Rujden nahm mißmutig zur Kenntnis, daß die Männer mit leeren Händen zurückkamen. Das nächtliche Land war gespenstisch still ringsum, als wäre es völlig ohne Leben.
Aber Rujden ging kein Risiko ein. Er postierte ein Dutzend Krieger rings um das Lager.
Stummer Grimm beherrschte die Sasgen über den Verlust ihrer Gefährten auf den beiden zerstörten Booten. Seit sie im Frühjahr nach Süden aufgebrochen waren, war Magie ihr Gegner gewesen. Beinah tausend Sasgen hatten in ihren unheiligen Krallen ihr Leben gelassen.
Und nun, mit all dieser Magie, war die Wirklichkeit kein fester Grund mehr. Jeder Schritt war trügerisch. Das Schwert, die Axt, die soviel gegolten hatten, waren nichts mehr. Ein Krieger war nichts mehr in dieser neuen Welt. Die Magier waren die neuen Herren.
Nein, das war keine Welt, die einem Sasgen gefallen konnte!
Burra sorgte allerdings auf robuste Art und Weise dafür, daß zumindest der Sasgenführer den Gefallen an dieser Welt nicht verlor.
Daß Rujden sich mit diesem ungeheuerlichen Weib einließ und sich gar nicht so übel behauptete, rang seinen Kriegern unerwarteten Respekt ab. Wenn die beiden erst einmal Hand aneinander legten, das wußte jedermann inzwischen, endeten alle Argumente im Zelt. Und manchmal war es in
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