Das Bernstein-Teleskop
das Gerücht um, dass sie eine Begleiterin bei sich habe, die mächtig und gefährlich sei.
Vor ihr hatten die Dorfbewohner Angst. War diese Begleiterin Mrs. Coulters Herrin oder ihre Dienerin? Führte sie etwas Böses im Schilde? Warum war sie überhaupt hierher gekommen? Wollte sie noch lange bleiben? Voller Sorge und Misstrauen übermittelte Ama diese Fragen. Während die Dæmonen sich austauschten und Mrs. Coulter durch ihren Affen informiert wurde, kam ihr plötzlich ein neuer Gedanke. Warum nicht einfach die Wahrheit sagen? Nicht die ganze natürlich, aber einen Teil wenigstens. Fast hätte sie darüber lachen müssen, doch sie ließ sich nichts davon anmerken.
»Ja, ich habe wirklich eine Begleiterin«, erklärte sie. »Aber vor ihr braucht ihr keine Angst zu haben. Sie ist meine Tochter und schläft die ganze Zeit, denn sie ist verzaubert. Wir verstecken uns in der Höhle, damit der Zauberer, der den Bann über sie gesprochen hat, uns nicht findet, und ich versuche sie zu heilen und vor weiterem Schaden zu bewahren. Komm rein, du kannst sie dir ansehen, wenn du magst.«
Ihre sanfte Stimme beruhigte Ama, doch ein Rest Angst blieb, und was Mrs. Coulter von dem Zauberer gesagt hatte, steigerte noch ihre Scheu. Der goldene Affe allerdings streichelte ihren Dæmon so zärtlich und sie war so neugierig, dass sie Mrs. Coulter in die Höhle folgte.
Ihr Vater unten auf dem Weg trat einen Schritt vor, und sein Dæmon in Gestalt einer Krähe hob ein-, zweimal die Flügel, doch der Mann blieb, wo er war.
Draußen wurde es rasch dunkel. Mrs. Coulter zündete eine Kerze an und führte Ama in den hinteren Teil der Höhle. Das Mädchen sah sich mit großen, dunklen Augen um und schlug mehrfach rasch die Finger aneinander, immer den Zeigefinger der einen Hand auf den Daumen der anderen, um die bösen Geister zu verwirren und die von ihnen drohende Gefahr abzuwehren.
»Siehst du?«, sagte Mrs. Coulter. »Sie tut niemandem etwas. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Ama betrachtete die Gestalt im Schlafsack, ein Mädchen vielleicht drei oder vier Jahre älter als sie. Seine Haare wiesen eine Farbe auf, wie Ama sie noch nie gesehen hatte - ein leuchtendes Gelbbraun wie das Fell eines Löwen. Es hatte die Lippen zusammengepresst und schlief tief und fest, was schon daraus hervorging, dass sein Dæmon bewusstlos an seinen Hals gekuschelt lag. Er sah aus wie ein Mungo, nur mit rotgoldenem Fell und kleiner. Der goldene Affe kraulte behutsam das Fell zwischen den Ohren des schlafenden Dæmons, und das mungoähnliche Wesen bewegte sich unruhig und stieß ein heiseres, leises Miauen aus. Amas Dæmon drückte sich in Gestalt einer Maus fest an ihren Hals und spähte ängstlich durch ihre Haare.
»Jetzt kannst du deinem Vater sagen, was du gesehen hast«, fuhr Mrs. Coulter fort. »Keinen bösen Geist, nur meine Tochter, auf die ich aufpasse, weil sie verzaubert worden ist und schläft. Aber sag deinem Vater bitte, dass das ein Geheimnis bleiben muss, Ama. Niemand außer euch beiden darf wissen, dass Lyra hier ist. Wenn der Zauberer davon erfährt, kommt er und tötet sie, mich und alle, die hier leben. Also, behalte das für dich! Sag es deinem Vater, aber sonst niemandem.«
Sie kniete sich neben Lyra hin, strich einige feuchte Haarsträhnen aus dem schlafenden Gesicht, beugte sich ganz hinunter und küsste ihre Tochter auf die Wange. Dann sah sie traurig und liebevoll wieder auf und lächelte Ama mit einer so tapfer getragenen, unendlichen Wehmut an, dass dem kleinen Mädchen Tränen in die Augen stiegen.
Mrs. Coulter nahm Ama an der Hand und ging mit ihr zum Eingang der Höhle zurück. Der Vater des Mädchens sah ängstlich von unten herauf. Mrs. Coulter legte die Hände zusammen und verneigte sich vor ihm, und er erwiderte den Gruß erleichtert. Seine Tochter verneigte sich ebenfalls vor Mrs. Coulter und dem verzauberten Mädchen, dann sprang sie im Halbdunkel den Hang hinunter. Noch einmal verbeugten Vater und Tochter sich in Richtung der Höhle, dann drehten sie sich um und verschwanden im Schatten der üppig wuchernden Rhododendren. Mrs. Coulter wandte sich wieder dem Wasser auf dem Herd zu, das schon fast kochte.
Sie ging davor in die Hocke und krümelte einige getrocknete Blätter in das Wasser, fügte zwei Prisen aus diesem und eine aus jenem Säckchen hinzu, ferner drei Tropfen eines hellgelben Öls, rührte hurtig um und zählte dabei auf fünf Minuten. Dann nahm sie den Topf vom Herd und setzte sich hin um zu
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