Das Bernstein-Teleskop
Die verzauberte Schläferin
In einem von Rhododendren überschatteten Tal nahe der Schneegrenze, durch das schäumend ein Bach mit grünem Schmelzwasser floss und unter dessen gewaltigen Pinien sich Tauben und Bergfinken tummelten, lag unter einer Felsnase, halb versteckt hinter den schweren, harten Blättern der Büsche, eine Höhle.
Der Wald war voller Geräusche, dem Tosen des Baches zwischen den Felsen, dem leisen Wispern des Windes in den Nadeln der Pinien, dem Zirpen der Insekten, den Lauten kleiner Waldtiere und dem Gezwitscher der Vögel. Hin und wieder fuhr ein Windstoß durch eine Zeder oder Tanne, und die Äste rieben aneinander und stöhnten wie ein Cello.
Glänzendes Sonnenlicht verwandelte den Wald in einen Ort der Helligkeit und nirgends fand sich eine Stelle ohne leuchtende Sprenkel. Zitronengelbe Strahlen teilten längliche und runde braungrüne Schatten auf dem Boden. Das Licht befand sich ständig in Bewegung und stand nie still, denn oft trieben Nebelschleier zwischen den Wipfeln. Sie dämpften das Sonnenlicht zu einem milchigen Schein und überzogen die Pinienzapfen mit einem feuchten Film, der, wenn der Nebel aufriss, in der Sonne glitzerte. Zuweilen verdichtete sich der Dunst auch zu feinen Tröpfchen, schon nicht mehr Nebel und noch nicht ganz Regen, die mehr nach unten schwebten als fielen und auf den Millionen Nadeln ein leises Rascheln erzeugten.
Am Bach entlang zog sich ein schmaler Pfad, der von einem Dorf oder eigentlich mehr einer Ansammlung von Hirtenhütten am Boden des Tales zu einem halb verfallenen Schrein nahe dem Gletscher am Talschluss führte. Dort flatterten verblichene Seidenfahnen in den immer währenden Winden, die vom Gebirge herabwehten, und fromme Dorfbewohner brachten Gerstenfladen und getrocknete Teeblätter als Opfergaben. Sonnenlicht, Eis und Dunst bewirkten, dass über dem Anfang des Tales ständig Regenbogen leuchteten.
Die Höhle lag etwas oberhalb des Pfades. Vor vielen Jahren hatte hier betend und fastend ein Einsiedler gelebt und seinetwegen galt die Höhle als heilig. Sie führte etwa zehn Meter tief in den Berg hinein und ihr Boden war trocken, ein idealer Unterschlupf für Bären oder Wölfe, doch lebten dort seit langem nur Vögel und Fledermäuse.
Das Wesen, das in diesem Augenblick am Eingang hockte, den Blick aus den schwarzen Augen wachsam umherwandern ließ und die spitzen Ohren lauschend aufgestellt hatte, war freilich weder Vogel noch Fledermaus. Golden glänzte die Sonne auf seinem weichen Fell und seine Affenhände drehten einen Pinienzapfen hin und her, rissen mit scharfen Nägeln die Schuppen ab und kratzten die süßen Nüsse heraus.
Hinter ihm saß knapp außerhalb der Reichweite der Sonnenstrahlen Mrs. Coulter und erhitzte in einem kleinen Topf auf einem Naphtha-Kocher Wasser. Ihr Dæmon gab ein warnendes Geräusch von sich und sie sah auf.
Auf dem Weg näherte sich ein kleines Mädchen aus dem Dorf. Mrs. Coulter kannte sie. Ama versorgte sie schon seit einigen Tagen mit Essen. Mrs. Coulter hatte ihr bereits, als sie zum ersten Mal gekommen war, zu verstehen gegeben, sie sei eine Heilige, die ihr Leben dem Gebet und der Meditation geweiht habe und nicht mit Männern sprechen dürfe. Ama war die einzige Besucherin, die sie empfing.
Diesmal war das Mädchen allerdings nicht allein gekommen, sondern in Begleitung seines Vaters. Er wartete dann aber in einiger Entfernung, während Ama zur Höhle hinaufstieg.
Am Eingang verneigte sie sich.
»Mein Vater schickt mich mit seinen besten Segenswünschen«, sagte das Mädchen.
»Sei gegrüßt, mein Kind«, sagte Mrs. Coulter.
Das Mädchen legte Mrs. Coulter ein in ausgeblichene Baumwolle gewickeltes Bündel zu Füßen. Dann hielt sie ihr einen kleinen Blumenstrauß hin, ein Dutzend mit einer Baumwollschnur zusammengebundene Anemonen, und begann schnell und aufgeregt zu reden. Mrs. Coulter verstand zwar die Sprache der Bergbewohner ein wenig, doch brauchten diese das nicht zu wissen. So bedeutete sie dem Mädchen nur lächelnd zu schweigen und die beiden Dæmonen zu beobachten.
Der goldene Affe streckte seine kleine schwarze Hand aus und Amas Schmetterling kam flatternd näher und setzte sich auf den runzligen Zeigefinger.
Der Affe führte ihn langsam an sein Ohr. Mrs. Coulter spürte den Austausch der beiden in ihrem Bewusstsein und die Worte des Mädchens wurden ihr klarer. Die Dörfler fühlten sich geehrt, dass eine Heilige in der Höhle Zuflucht gesucht hatte. Doch gehe
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