Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
sanft, so dass die Klinge nichts durchschnitt.
    »Was machst du da?«, fragte die Stimme aus der Luft und riss ihn aus seiner Konzentration.
    »Ich probiere etwas aus«, antwortete Will. »Sei still und komm mir nicht zu nahe, sonst schneidest du dich noch. Wenn ich dich nicht sehe, kann ich dir auch nicht ausweichen.«
    Balthamos ließ ein missvergnügtes Murmeln hören. Will hielt das Messer wieder vor sich hin und tastete nach den winzigen Unebenheiten. Es gab viel mehr davon, als er gedacht hatte, und als er sie mit der Klinge abtastete, ohne gleich hin durchzuschneiden, stellte er fest, dass sie sich alle verschieden anfühlten. Die eine hart und deutlich, eine andere verschwommen, eine dritte glatt, eine vierte zerbrechlich und spröde ...
    Einige spürte Will besonders leicht auf, und obwohl er die Antwort bereits kannte, schnitt er einen dieser kleinen Knoten durch, um sicher zu sein: Er landete wieder in seiner Welt.
    Der Junge schloss das Fenster und tastete nach einer Unebenheit, die anders war. Er stieß auf eine, die sich elastisch und zugleich fest anfühlte, und ließ das Messer tastend hin durchgleiten.
    Und richtig! Die Welt, die er durch dieses Fenster sah, war nicht seine eigene: Zu ihr ging es nicht so tief hinab und sie bestand nicht aus grünen Feldern und Hecken, sondern aus einer Wüste endloser Dünen. 
    Will schloss das Fenster und öffnete ein anderes. Diesmal sah er den rauchgeschwängerten Himmel über einer Industriestadt. Aneinander gekettete Arbeiter mit düsteren Mienen schleppten sich hintereinander in eine Fabrik.
    Er schloss auch dieses Fenster und wachte aus seiner Trance auf. Ihm war ein wenig schwindlig. Zum ersten Mal begriff er, was für eine Macht dem Messer innewohnte. Sorgfältig legte er es vor sich auf einen Stein.
    »Willst du den ganzen Tag hier verbringen?«, fragte Balthamos. 
    »Ich denke nach. Man kommt nur dann ohne Schwierigkeiten von einer Welt in die andere, wenn der Boden auf derselben Höhe liegt. Vielleicht gibt es Stellen, wo das der Fall ist, und vielleicht werden dort besonders viele Fenster geöffnet ... Und man muss wissen, wie sich die eigene Welt mit der Messerspitze anfühlt, sonst kommt man womöglich nie mehr zurück und wäre für immer verloren.«
    »Richtig. Aber können wir jetzt vielleicht ... «
    »Und man müsste herausfinden, welche Welt mit der eigenen auf gleicher Höhe verbunden ist, sonst braucht man sie gar nicht zu öffnen«, sagte Will mehr zu sich als zu dem Engel. »Es ist also nicht so leicht, wie ich dachte. Mit Oxford und Cittàgazze hatten wir vielleicht nur Glück. Aber ich will doch ... «
    Der Junge nahm das Messer wieder auf. So wie er Unebenheiten, die in seine Welt führten, eindeutig feststellte, hatte er bereits wiederholt etwas anderes gespürt, etwas, das hohl klang, als schlage man auf eine schwere Holztrommel, nur dass man dieses Dröhnen natürlich wie die anderen Unebenheiten in der Luft ertasten musste.
    Da war die Stelle wieder. Er bewegte das Messer weiter und spürte an einem anderen Knoten dasselbe.
    Er schnitt hindurch und fand seine Vermutung bestätigt. Der Nachhall bedeutete, dass der Boden der geöffneten Welt sich auf gleicher Höhe mit dem Boden der Welt befand, in der er sich aufhielt. Will blickte auf eine im Hochland gelegene Weide unter einem wolkenverhangenen Himmel, auf der friedlich eine Herde graste - Tiere, wie er sie noch nie gesehen hatte - groß wie Büffel, mit breit ausladenden Hörnern, einem zotteligen, blauen Fell und auf dem Rücken eine hoch stehende Mähne. 
    Der Junge trat durch das Fenster. Das ihm nächste Tier sah ohne Neugier auf und wandte sich gleich wieder dem Gras zu. Will ließ das Fenster geöffnet und tastete auf der Wiese der anderen Welt stehend mit dem Messer nach den vertrauten Unebenheiten und schnitt hinein. 
    Ja, er konnte auch von dieser Welt ein Fenster in seine Welt öffnen. Wieder stand Will hoch über den von Hecken umfriedeten Bauernhöfen. Und genauso leicht fand er die dumpf klingenden Stellen, die in die soeben verlassene Welt von Cittagàzze führten.
    Zutiefst erleichtert kehrte Will in das Lager am See zurück und schloss die Fenster hinter sich. Er lernte allmählich, sich zurechtzufinden. Jetzt würde er immer den Weg nach Hause finden. Er konnte sich nicht mehr verirren und sich notfalls immer in einer anderen Welt verstecken.
    Je mehr er herausfand, desto stärker fühlte er sich. Voller Zuversicht steckte er das Messer wieder in die Scheide an

Weitere Kostenlose Bücher