Das Bernsteinzimmer
Straße in der Nähe des Zoos fahren und musterte im Vorbeifahren das Haus, in dem er erwartet wurde. Wer ist es, fragte er sich, verdammt, wer ist es?
Das Taxi fuhr an einem parkenden VW vorbei, und Silbermann achtete ebensowenig darauf, wie Joe Williams das Taxi nicht interessierte.
Warten wir es ab, dachte Silbermann. Beobachten wir erst mal das Haus. Ihr könnt euch doch denken, Jungs, daß ein alter Fuchs des Geheimdienstes nicht so ohne weiteres in eine Falle tappt! Ein paar Tage Zeit haben wir alle …
Er beschloß, im neuen Jahr, vielleicht am 3. Januar 1957, das Haus zu betreten, mit einer Smith & Wesson im Gürtel. Im Hotel übte er dann drei Tage lang das blitzschnelle Ziehen, stand vor dem Spiegel, rief hopp und riß die Waffe aus dem Gürtel.
»Du wirst nie ein Gary Cooper!« lachte er einmal sein Spiegelbild an. »Und der alte Wayne kann's auch besser! Aber für Frankfurt muß es reichen. Man muß nur immer eine Sekunde schneller sein …«
Zwischen Weihnachten und Neujahr beobachtete er das Haus. Er hatte sich ein Auto geliehen, und ein paarmal begegnete er einem VW, aber keiner achtete auf den anderen.
Das ist ein Scheißspiel, dachte Joe Williams in diesen Tagen. Kommt er, oder kommt er nicht?! Hat er die Anzeige gelesen? Wie lange soll ich hier auf der Lauer liegen? Wochenlang? Ihr verdammten Russkijs, fahrt doch endlich zurück nach Moskau –
Am 3. Januar, wie er es sich vorgenommen hatte, wagte es Silbermann, vor dem Haus anzuhalten und aus dem Wagen zu steigen. Wie ein Schlag traf es Joes Herz. Er parkte an der Straßenecke und beobachtete das Haus mit einem Fernglas.
Er ist es! Wirklich, er ist es. Captain Fred Silverman. Der einzige, der nie an einen Überfall des ›Werwolfs‹ geglaubt hatte. Der einzige, der ahnte, daß das Bernsteinzimmer nicht für immer verschollen war.
Fast körperlich spürte Joe die Gefahr.
Er sah, wie Silverman das Haus betrat, und wußte, daß Zögern eine Art von Selbstmord geworden war. Er spreizte die Finger, umklammerte dann das Lenkrad und wurde so kalt, von den Zehen bis zur Hirnschale, als sei heute eine Neumondnacht.
Nikolaj öffnete die Tür, als die Klingel schrillte. In der Hand hielt er eine russische Pistole, eine 9-mm-Makarow. Im Durchgang zum Wohnzimmer hatte sich die Jablonskaja an die Wand gedrückt und hatte die Finger am Abzug einer kleineren, aber mit zwanzig Schuß im Magazin schnelleren Stechkin . Wie es auch kommen würde … die eine Sekunde Vorsprung hatte Silbermann nicht mehr.
»Ja?« fragte Nikolaj und musterte den ihm fremden Mann. »Sie wünschen?«
Er sprach deutsch, und Silbermann antwortete ihm auf deutsch.
»Sie haben mich eingeladen«, sagte er und blickte auf die Makarow. »Der Text der Anzeige klang so freundlich … um so unfreundlicher ist der Empfang.«
»Captain Fred Silverman?«
»Zuletzt Major. Und heute Friedrich Silbermann.«
»Kommen Sie herein.« Nikolaj hob die Pistole, als Silbermann in die Diele trat. Rasch stieß er die Tür zu. »Haben Sie eine Waffe?«
»Ja. Sie doch auch.«
Nikolaj streckte die linke Hand aus. »Geben Sie her …«
»Nein! Warum? Warum sollte ich schießen? Sie wären immer im Vorteil.«
»Das stimmt.« Nikolaj zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer. »Gehen Sie weiter.«
Silbermann nickte, setzte sich in Bewegung, trat in das Wohnzimmer, sah aus dem Augenwinkel Wassilissa mit ihrer Stechkin stehen und vor sich einen Mann aus dem Sessel springen.
»Silverman! Sie sind es wirklich!« rief der alte Mann und streckte beide Arme nach ihm aus. »Erkennen Sie mich noch? 1945 … Salzburg, Schloß Kiessheim …«
»Wachter! Ja, Sie sind Wachter … der Mann vom Bernsteinzimmer.«
Sie stürzten aufeinander zu, umarmten sich, klopften sich auf den Rücken, betrachteten sich dann mit ausgestreckten Armen, und Wachter sagte:
»Sie haben sich kaum verändert, Herr Silbermann.«
»Auch Sie nicht, Herr Wachter. Ein bißchen älter sind wir geworden, faltiger und um die Hüften dicker. Aber Kraft haben wir noch genug, nicht wahr?«
Es wurde ein wundervoller Abend. Sie tranken Rheinwein, Wassilissa buk Pelmeni und servierte nach russischer Art Lauchzwiebeln und eingelegte Gurken.
Silbermann erzählte von seinen diplomatischen Diensten in Neuseeland und China, Wachter berichtete stolz von seinen Enkeln Peter und Janina und den vielen Ehrungen, die er zum 70. Geburtstag empfangen hatte, bis die Jablonskaja eine Flasche Wodka auf den Tisch stellte und sagte:
»Genug mit der Vergangenheit.
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