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Das Bernsteinzimmer

Das Bernsteinzimmer

Titel: Das Bernsteinzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Brot abschneiden konnte, aber auch dies nur in mühsamer Säbelei, denn stumpf war die kurze Klinge, schon mindestens zwanzig Jahre alt. Sein Vater Awtonon Sergejewitsch hatte es ihm geschenkt, als er die Uniform anziehen mußte, um die deutschen Banditen, wie der Vater die Aggressoren nannte, aufzuhalten. »Ein Messer ist immer gut«, hatte Awtonon zu ihm gesagt. »Schneiden kann man damit, Büchsen öffnen, mit der Spitze bohren und schrauben, ein wahres Teufelsding ist so ein Messerchen. Verlier es nicht, mein Sohn, dein Leben könnte es retten.«
    Also holte Viktor Janissowitsch das väterliche Taschenmesser aus seiner verschmutzten Uniformhose, klappte die lächerlich kleine Klinge auf und verfolgte weiter die Spur der verstreuten Erde. Etwa vierzig Meter von der Straße entfernt kam er an einen breiten, vielleicht zwei Meter tiefen Graben. Er war mit Büschen bewachsen, und Wurzelfäden stießen durch den Hang, die aussahen wie ein struppiger Bart … ja, und da sah Viktor Janissowitsch einen Haufen Zweige, die vertrocknet waren, etwas Absonderliches für einen Graben, aus dem die feuchte Erde schimmelig und streng roch.
    Solotwin krallte die Finger fester um den Holzgriff seines Taschenmessers, stieß es vor, als wolle er ein Bauernduell beginnen, und spreizte dabei die Beine. So viel Mut verstand er selbst nicht mehr. Ihm war klar, daß dieses trockene Reisig etwas verdeckte und daß die abgerissenen Zweige etwas schützen sollten, was immer sich dahinter verbergen mochte.
    »Komm heraus!« rief er, seine plötzlich so harte Stimme bewundernd. »Heb die Hände hoch und komm heraus! Keinen Sinn hat's, sich jetzt noch zu verkriechen.«
    Er wartete, hinter einem Baum stehend, das Messer von sich gestreckt. Wenn's ein Spion ist, dachte er mit hämmerndem Herzen, wird er mich verstehen? Kann er russisch? Aber so dumm sind die Deutschen nicht, daß sie Spione losschicken, die kein Russisch verstehen. Oder ist's ein Sowjetbürger? So einer, von denen man jetzt immer öfter hört? Defätisten, Verräter, Mitglieder der berüchtigten Fünften Kolonne, Kollaborateure, Agenten, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten, die nachts Leuchtzeichen abfeuerten und den deutschen Bombern den Weg zu besonders wichtigen Stellen angaben? Da hatte doch eine Frau – überall wurde das erzählt als warnendes Beispiel –, eine Frau in Leningrad in ein entdecktes Tagebuch geschrieben: »Werden wir wirklich bald befreit? Einerlei, wie die Deutschen sind, es kann kaum noch schlimmer kommen. Herr, vergib mir …« Eine Feindin des Kommunismus. Erschossen hatte man sie, die Verräterin.
    Wer also verbarg sich dort im Abhang des Grabens?
    Noch einmal rief er mit scharfer Stimme: »Komm heraus!« Insgeheim wünschte er sich, daß niemand aus dem Versteck kroch, daß es verlassen war und es keinen Kampf geben würde. Aber Solotwin hatte dieses Glück nicht.
    Die verdorrten Äste bewegten sich, wurden zur Seite geschoben, gaben den kleinen, runden Eingang einer Erdhöhle frei, eine schmutzige Hand drückte das Reisig weg, und dann erschien in der Öffnung ein Kopf, und ein schmaler Körper kroch ins Freie.
    Solotwin duckte sich hinter seinem schützenden Baum und wartete ab. Was er zunächst klar erkannte, war ein deutscher Militärmantel, zottelige Haare, von getrockneter Erde verschmutzte Kleider und ein verdrecktes Gesicht mit hohen Backenknochen. Sieh an, sieh an, dachte Viktor Janissowitsch, und seine Angst verschwand so plötzlich, wie sie ihn angesprungen hatte. Ein deutscher Spion! Wahrhaftig, sogar in Uniform. So sicher sind sie sich, unser Land zu erobern, daß sie sich sogar in Uniform unter uns mischen. Aber noch sind wir hier, Freundchen, und wir bleiben hier. Weißt du nicht, was Stalin am 3. Juli, morgens um sechs Uhr dreißig im Moskauer Radio zu uns allen gesagt hat?
    »Kein einziger Waggon, keine einzige Lokomotive, kein Kilo Getreide und kein Liter Brennstoff dürfen in die Hand des Feindes fallen. In den besetzten Gebieten müssen sich Partisanengruppen zu Fuß und zu Pferde organisieren, um einen Zermürbungskrieg zu führen, Brücken und Straßen zu sprengen, Lager, Häuser und Wälder in Brand zu setzen. Der Feind muß gehetzt werden bis zu seiner Vernichtung …«
    Solotwin stieß den Atem schnaufend durch die Nase. »Die Hände hoch!« rief er. »Hoch und in den Nacken legen! Und herkommen, ganz langsam herkommen. Ich schieße sofort, jawohl, sofort …«
    Der Deutsche schien ihn zu verstehen. Auch glaubte er

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