Das Bernsteinzimmer
General Sinowjew noch leiser. Seine Stimme war schleppend geworden, schwer die Zunge vor Hilflosigkeit und Kummer. Er stützte den Kopf in die rechte Hand, während die linke den Telefonhörer hielt. Seine Gardedivision grub sich in die Erde, tränkte Meter um Meter der heiligen russischen Erde mit Blut, aber der Druck der deutschen Truppen war zu stark. Allein im Raume Puschkin und Peterhof stießen das XXVIII. Armeekorps, das XII. Panzer-Korps, die 96. und 121. Infanterie-Division, das I. Armeekorps, Teile der 16. und 18. Armee der Heeresgruppe Nord unter dem Befehl von Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, die 1. Panzerdivision und vor allem die SS-Polizei-Division, gefürchtet überall, wo sie eingesetzt wurde, unaufhaltsam vor. Fünfzehn Divisionen der Roten Armee standen neunundzwanzig Divisionen der Deutschen gegenüber. Zum erstenmal erlebten sie die Übermacht der Faschisten.
Leningrad – für Hitler ein Symbol des Sieges.
Und im Mittelabschnitt der Front rollte die deutsche Lawine bereits auf Moskau zu.
General Sinowjew schloß einen Moment die Augen.
Es darf nicht sein, schrie es in ihm. Nein, es darf einfach nicht sein! Über 500.000 Kinder leben noch in der Stadt, für 980.000 Menschen hatte man Luftschutzräume gebaut, 672.000 Menschen konnten sich in schnell ausgehobenen Splittergräben verkriechen, aber doppelt so viele Einwohner warteten in Leningrad auf ein Wunder … auf das Wunder, nicht in deutsche Hand zu fallen. Und auch an Generalmajor F. S. Iwanow erinnerte sich Sinowjew jetzt. Als Schukow ihn fragen ließ, wie der Frontverlauf um Leningrad verlaufen würde, hatte Iwanow verzweifelt geantwortet: »Ich weiß nicht, wo die Front verläuft. Ich weiß überhaupt gar nichts!« Sofort wurde er von Schukow seines Kommandos enthoben. Der Marschall kannte kein Erbarmen mehr, er war ein Offizier der härtesten Art, ein Mensch, der Unmögliches möglich machen wollte: Leningrad, eine seit ihrer Gründung im Mai 1703 durch Peter den Großen unbesiegte Stadt, sollte unbesiegt bleiben.
Ein Vorbild für das riesige russische Reich.
Sinowjew atmete ein paarmal tief ein und aus, seufzend und doch befreiend.
»Sie bekommen Lastwagen, Genosse Major, so viel ich entbehren kann«, sagte er und wischte sich wieder über die Augen. Wenn Schukow das erfährt, wird es mir ergehen wie Iwanow. In Schimpf und Schande werde ich weggejagt. »Sie sind morgen, spätestens übermorgen bei Ihnen in Puschkin.«
»Wieviel Wagen, Genosse General?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt da einen Spezialtrupp, den ich schon öfter eingesetzt habe. Ein paar Soldaten, die schon Millionenwerte gerettet haben. Verdammt, bauen Sie das Bernsteinzimmer aus!«
Er legte den Hörer auf und blieb an seinem Tisch sitzen, faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Wir kommen zu spät, dachte er voll würgender Traurigkeit. Die letzten Berichte von der Front lauteten: Der Ring der Deutschen wird immer enger. Die ›Perlenkette‹, die Vororte Leningrads mit ihren Schlössern in Petrodworez, Puschkin und Pawlowsk, mit einer der reichsten Bibliotheken Rußlands, würden von den deutschen Divisionen überrannt werden, und eine der schönsten Schatzkammern der Welt war für immer verloren.
Was kann ich tun? Himmel, hilf mir! Was kann ich tun?
Es waren dann zehn Lastwagen, die Sinowjew, ohne die Aktion an Schukow zu melden, auf den Weg nach Puschkin schickte. »Fahrt Tag und Nacht!« hatte er zu dem strammen Unterleutnant Wechajew gesagt. »Jede Stunde ist wichtig! Wenn ihr das Bernsteinzimmer rettet, wird Rußland euch einmal die Helden von Puschkin nennen. Fahrt … fahrt … fahrt!«
Und nun hatte einer der Wagen einen Achsenbruch. In einem Wald lagen sie am Wegrand herum, neunzehn Rotarmisten und ein gottserbärmlich fluchender Lew Semjonowitsch; und der schüchterne Soldat Viktor Janissowitsch Solotwin, der eigentlich seinen Darm hinter einem Gebüsch entleeren wollte, entdeckte verstreuten, frisch ausgegrabenen Waldboden.
Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd wie ein Reh, mit angespanntem Gehör und klopfendem Herzen schlich Solotwin durch den Wald, von Baum zu Baum Deckung suchend, bereit, sofort zu schreien, wenn er angegriffen werden sollte.
Was blieb ihm schon anderes übrig, als zu schreien! Seine Maschinenpistole lag im fünften Lastwagen, eine Pistole trug nur Wechajew an den Gürtel geschnallt. Er, Solotwin, hatte jetzt nur ein Taschenmesser bei sich, ein kleines, aufklappbares Ding, mit dem man ein Stück Wurst oder
Weitere Kostenlose Bücher