Das Bett
deutlich war; die Vorstellung, mit der sie hierhergefahren war, nämlich Agnes abzufinden, kam ihr jetzt beinahe peinlich vor.
Wie für Florence in dem Zimmer der Agnes und in seinen Gegenständen das Abbild des Lebens, das Stephan dort mit dem alten Kindermädchen aus Dillenhausen geführt hatte, deutlicher geworden war, als jede Schilderung anderer dies vermocht hätte, so wurde für meine Tante nach ihrer Rückkehr aus Kronberg unser Gästezimmer, das nun dazu bestimmt war, das Gehäuse ihres Leidens zu werden, nach kurzer Zeit mit ebendiesem Leiden identisch. Je intensiver sie betete und weinte, desto mehr entäußerte sie sich des Kummers in dies Zimmer hinein, das der einzige |486| Zeuge ihrer Nacht war. Unser Gästezimmer war ein lieblos möblierter Raum, in dem klobige Möbel aus der Vorkriegszeit, die man sonst nicht mehr sehen wollte, einen Abstellplatz gefunden hatten. Die dicken Holztüren der Schränke klemmten, der Sessel war unbequem und viel zu groß, und wenn man die Tür öffnete, mußte man vorher den Kleiderschrank schließen. An den Wänden hingen Reproduktionen nach Dürers Holzschnitten, meine Tante schlief unter drei Blättern aus der »Kleinen Passion«. Diese Gegenstände hatten sich nun mit ihrem Unglück vollgesogen wie die Schwämme und dadurch ein nur meiner Tante sichtbares mysteriöses Leben erhalten. Wenn sie in dies Zimmer trat, um sich auf Geheiß meiner Mutter nach dem Essen hinzulegen, dann schauten sie aus den mattpolierten Eichenmöbeln alle Phasen ihrer Beziehung zu Stephan an, das Wachsen ihrer Liebe, die Ereignisse in Bockenheim und was sonst noch geschehen war, und schließlich Florence, die alles zerstört hatte und von ihr sogar noch die Einwilligung in diese Zerstörung verlangte. Und weil der Geist meiner Tante zu zart war, um solchen Erlebnissen auf die Dauer gewachsen zu sein, ging das Unglück tatsächlich von ihr auf die Möbel ihres Zimmers über, die sie deswegen nur liebevoller betrachtete, denn sie begann ihre Entlastung zu spüren und aufzuatmen.
Ein lebenslanger Druck war plötzlich von ihr genommen, freilich für einen hohen Preis, wie jeder finden mußte, der das Leben meiner Tante mit Wohlwollen verfolgte und sich doch über das Ausmaß ihrer Qualen keine Vorstellungen machte.
Stephan übrigens bekam die Veränderung im Verhalten meiner Tante gar nicht mit. Wie hätte er sich verhalten, wenn sie ihm in ihrer ganzen Verwirrung begegnet wäre? Er vermutete ungeheure Reserven in ihr, Vorräte, die noch niemals das Tageslicht gesehen hatten, riesige Lager an unentdeckter Empfindungsfähigkeit, sinnlichem Reichtum und dunkelrotem Liebesblut, und er war auf den Gedanken nicht vorbereitet, daß die Besitzerin dieser geheimen Schätze, von denen er doch in Zukunft zu zehren gedachte, weil er ihr Finder war und deshalb Anspruch auf den Hort besaß, so schwer in ihrer seelischen Fassungskraft bedroht sein |487| könnte. Wer Stephans Charakter mit Skepsis betrachtete, mußte um seine Standfestigkeit im Fall einer Begegnung mit meiner dermaßen veränderten Tante bangen. Es ist nicht sicher, ob er ihr zur Seite gestanden hätte, es ist noch weniger gewiß, ob er sich von ihr unter diesen Umständen in Deutschland hätte halten lassen. Wir müssen vielmehr befürchten, daß die Art und Weise, in der meine Tante sich neuerdings betrug, auf Stephan einen erschreckenden, vielleicht auch abstoßenden Eindruck gemacht hätte. Er suchte ein einzigartiges Abenteuer, ein Leben, das im weitesten Sinne seinen Fliegerplänen entsprochen hätte, das Leben des neuen und des wahren Stephan, aber nicht eine Stellung als Krankenwärter einer verrückt gewordenen Französischlehrerin. Daran hätte auch nichts geändert, daß es ja die Geschichte ihrer Liebe zu ihm war, das Verhalten seiner Mutter, aber auch sein eigenes, welches sie sich so zu Herzen genommen hatte, bis ihr Herz sich rettete und sich gegen das Unglück unempfindlich machte. Stephan wäre wahrscheinlich nur zu bald für Erklärungen empfänglich gewesen, nach denen meine Tante ohnehin von labiler Verfassung gewesen sei; in solchen Fällen komme es nur auf ein Auslösungsmoment an, und der längst vorbereitete, nur noch auf dies Moment wartende psychopathische Zustand entfalte sich zu einem Ausmaß, das in keinem Verhältnis mehr zum Auslösungsfaktor stehe; dieser Auslösungsfaktor aber sei im Grunde bei entsprechend disponierten Menschen beliebig; irgendein kleiner Schock, ein kleiner Unfall, ein Blitzschlag, eine
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