Das Bett
»kleinen Leute« nicht kannte, war sie von den Wohnverhältnissen, wie sie in der Siedlung der Agnes herrschten, beeindruckt. Noch niemals hatte sie so schlecht gebaute Häuser gesehen, an denen kein Verputz verbarg, daß sie aus dem billigsten Material einzig zur Behebung der größten Wohnungsnot zusammengehauen waren. Florence konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mensch so wohnte, und sie war noch fassungsloser bei dem Gedanken, daß ihr eigener Sohn aus seinem behaglichen Heim aufgebrochen war, um sich in einer solchen Barackenstadt herumzutreiben. Sie hatte gelesen, daß es Mütter gab, die ihre Söhne an noch schlimmeren Plätzen wiederfanden, in Gefängnissen, Irrenhäusern, Opiumhöhlen und Bordellen, und tatsächlich hätten Orte dieser Art Florence nie aus ihrem Gleichgewicht bringen können. Die Mickrigkeit der Kuhwaldsiedlung hingegen berührte sie.
Sie hätte Gestank ertragen, aber keinen Mief, sie war in die |482| Schlacht gefahren und hatte einen saugenden Sumpf gefunden, in dem der Soldat seinen Stiefel verlor. Sie hatte nichts dagegen, einen kranken und unglücklichen Sohn zu haben, aber sie wollte ein Unglück, das zu ihr und ihrer Welt gehörte, und sie wollte nicht durch eine unpassende soziale Komponente das Leid ihres Hauses erbärmlich machen. Sie versuchte sich abzulenken mit dem Gedanken, daß Agnes schließlich eine ehemalige Angestellte war, aber das war hier in dieser Umgebung nur ein intellektueller, kein ästhetischer Trost, dessen sie doch so sehr bedurft hätte.
Lange Zeit stand Florence in dem kleinen Zimmer, in dem ihr Sohn die letzten Monate zugebracht hatte, und sah sich um. Agnes war nicht zu Hause, aber Haus- und Wohnungstür standen offen und wehrten dem erwarteten Gast den Eintritt nicht. Auf dem Herd stand ein großer Aluminiumkessel auf kleiner Flamme, daneben war schon das Wasserbad für die Kaffeekanne gerichtet, die Filtertüte durch Faltungen für den Gebrauch vorbereitet und der Kaffee in der Kaffeemühle gemahlen. Florence, die selbst nicht groß war, bemerkte zerstreut, wie niedrig dies Zimmer war, sie hätte die Decke beinahe mit der Hand berühren können. Hier stand der Wehrmachtsschrank, den sie freilich nicht als solchen erkannte, weil ihr die Bekanntschaft mit Möbeln dieser Art erspart worden war; daneben war der bauchige, weißemaillierte Ausguß, über dessen Becken man ein eisernes Leiterchen klappen konnte, um einen Eimer daraufzustellen, und dann kam das kleine Fenster mit Scheibengardinen, das mansardenartig die schrägen Wände unterbrach. Es war ein freundlicher, heller Tag, Sonnenstrahlen fielen auf den Boden und zeigten, wie sauber er war, überhaupt war alles sehr aufgeräumt und reinlich. Florence kam die Umgebung nicht unvertraut vor, sie erinnerte sie an den Aufenthaltsraum des Personals neben der Küche im Souterrain ihres Frankfurter Hauses. Auf dem linoleumbezogenen Tisch lagen Agnes’ Rätselhefte, daneben zwei Bleistifte, ein Radiergummi und ein Spitzer und eine Brille.
»Sieh da, sie braucht eine Brille«, dachte Florence und fuhr |483| mit einer unbewußten Bewegung der Hand über ihre Augen. Nein, dort gab es nichts zu entdecken, Florence brauchte keine Brille, sie war auch nicht grau geworden, ihr schönes Gesicht war alterslos und fest, denn das Altern war eine Frage der Disziplinlosigkeit und fiel nicht in ihr Ressort, und doch machte es sie nachdenklich, an dieser Brille das Verstreichen der Zeit zu empfinden, wie zuletzt als junges Mädchen, als das Verlobungsjahr mit Willy so schnell zu Ende gegangen war und kein Weg mehr an der Heirat vorbeiführte.
Florence schaute sich um, ob sie irgendeinen Hinweis dafür fand, wie Agnes jetzt aussah. Das lag nah in diesem Zimmer, das für den Augenblick verlassen war und doch in jedem Gegenstand den Geist und den Körper seiner Bewohnerin atmete, und zwar deutlicher, als es das Zimmer einer Dame vermocht hätte, die viel Geld und Geschmack zur Ausstattung ihrer Wohnung aufgewandt hat. Hier gab es kein Dekor, abgesehen von der großen schwarzweißen Photographie eines Eisvogels, der dem Vogel, der in Ines Wafelaerts Trümmerquartier hing, ähnlich sah, aber auch dieses Bild erfüllte noch eine Funktion, weil es die Rückwand eines kleinen Abreißkalenders war, an dem Agnes den gleichförmigen Fortgang ihres Lebens in Ruhe verfolgen konnte. Dies Zimmer war wie eine Kartäuser-Zelle. Alle Bedürfnisse eines einfachen Lebens waren hier berücksichtigt: Es gab zwei Stühle, es gab den Tisch,
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