Das Bild - Geschichte einer Obsession
die Arme zu beiden Seiten des Körpers und mit beiden Händen die Metallstange haltend. Ich fand ihren zugleich zudringlichen und leeren Blick wieder, als sei sie im Begriff, den reibungslosen Ablauf eines Szenarios zu überwachen, das sie ausgearbeitet hatte und das sie wohl kaum auch nur im geringsten in Erstaunen versetzte.
Claire war sehr schön, sagte ich, gewiß sehr viel schöner als ihre junge Freundin im weißen Kleid. Doch im Gegensatz zu dieser hatte sie mich niemals in sinnliche Erregung versetzt. Anfänglich hatte mich das überrascht, und dann hatte ich mir schließlich gesagt, daß mich eben gerade ihre zu große Schönheit, ihr Übermaß an Vollkommenheit daran hinderten, in ihr eine mögliche Beute zu sehen. Wahrscheinlich mußte mir zumindest eine Kleinigkeit verwundbar erscheinen, damit ich die fiebrige Erregung des eventuellen Siegers verspüren konnte.
Ich näherte mich dem geöffneten Fenster, wobei ich, diesmal allerdings mit Bedacht, dieselbe Bewegung ausführte wie vorhin; und ich drehte den Kopf zum Balkon. Claire war nicht mehr da.
Ich machte noch ein paar Schritte in diese Richtung, um nach rechts und links zu blicken: auf der ganzen Länge des Balkons war niemand zu sehen. Da ich fürchtete, man könnte mein seltsames Benehmen bemerkt haben, tat ich so, als wollte ich frische Luft schnappen, und stützte mich auf das Geländer, während ich mit den Blicken ziellos den Passanten folgte, die auf dem Boulevard flanierten, vor den strahlend erleuchteten Schaufenstern, in der lauen Nacht.
Etwas später, in der Nähe der großen Couch sitzend, mitten in einer Gruppe, in der man leidenschaftlich den letzten literarischen Schwindel kommentierte, hatte ich Gelegenheit, die junge Frau im weißen Kleid aufmerksamer zu beobachten.
Je mehr mein Blick sich an ihr, an ihren Gesichtszügen, an den Linien ihres Körpers festsaugte, um so anmutiger fand ich sie, voller Zartheit und Reserviertheit, aber mit den Bewegungen einer schüchternen Ballerina, deren Zauber ein Anflug von Linkischheit noch betonte. Sie bot gerade einer Gruppe von Männern ein Tablett mit Erfrischungen an, die sich ganz offensichtlich mehr darum sorgten, sie von oben bis unten zu betrachten, als sich zu bedienen. Ihr Kleid hatte einen sehr weiten Rock, der auf Taille gearbeitet war. Ein gebauschtes Dekolleté ließ ihre runden, glänzenden, ein wenig gebräunten Schultern weitgehend frei.
«Und Sie, Jean de Berg, Sie ziehen es vor, nicht Partei zu ergreifen?»Das war X... selbst, der mich auf diese Weise wieder in die Unterhaltung zurückholte. In der Drehung des Oberkörpers, die ich ausführte, um ihn anzusehen, bemerkte ich plötzlich Claire, die mich beobachtete, den Blick ruhig auf mich gerichtet. Sie lehnte an der Wand im Hintergrund und rauchte, allein, abseits, neben einem leeren Sessel stehend. Ich erhielt von ihr, als mein Blick sie streifte, was mir das gleiche seltsame Lächeln schien wie beim ersten Mal.
Und an jenem Abend sah ich, als ich mich anschickte, unsere Gastgeber zu verlassen, Claire, die sich mir plötzlich von sich aus näherte.
«Ich gehe», sagte sie zu mir. «Wenn Sie wollen, trinken wir noch etwas in einem Café, um uns von hier zu erholen.»
Sie schien mir auf diese Weise einen Gefallen zu erweisen, um den ich sie lange gebeten hatte. Ich antwortete nicht sofort, da ich nicht wußte, wie ich fragen sollte, ob ihre junge Freundin uns begleiten würde oder nicht. Doch fast sofort fügte Claire selbst hinzu:
«Sie werden die Bekanntschaft von Anne machen. Sie werden sehen: sie ist sehr nett.»
Sie hatte das Wort «nett» auf eine Art betont, die mir ungewöhnlich schien. Ich sah sie scharf an und hob fragend die Augenbrauen: «Anne?»
«Ja, dieses Kind.» Sie bezeichnete mir mit einem indiskreten Zeigefinger das junge Mädchen, das, ein paar Schritte von uns entfernt, auf einem einzeln stehenden Stuhl saß und seine Hände betrachtete, die gekreuzt auf seinen Schenkeln lagen.
Ich fragte im gewöhnlichsten Konversationston:
«Wer ist sie denn?»
«Ein kleines Modell», antwortete Claire gleichsam herablassend. (Habe ich erwähnt, daß sie mehr oder weniger Kunstfotografin war?)
«Und weiter?»
«Nun, sie gehört mir», sagte Claire einfach.
In der Ecke der Bar, in die wir uns gesetzt hatten, war niemand außer uns dreien. Claire bestellte schnell, nachdem sie mich kaum nach meinen Wünschen und die kleine Anne gar nicht um ihre Meinung befragt hatte, Mineralwasser für alle. Der Kellner bediente uns sofort.
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