Das Bild - Geschichte einer Obsession
Gruppen, wie es sich im Zufall des Kommens und Gehens ergab.
Es waren etwa dreißig Personen da, verteilt auf drei ineinander übergehende Räume, die zum Boulevard hin lagen. Es mußte Juni oder Ende Mai sein. Eines der Fenster war weit offen gelassen worden.
Als ich Claire wiedersah, stand sie allein auf dem Balkon, gegenüber diesem geöffneten Fenster, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt. Sie blickte in das Zimmer hinein, jedoch nicht in meine Richtung. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, was sie mit solcher Aufmerksamkeit betrachtete: Es war eine Gruppe von drei Personen, die ebenfalls nicht weit vom offenen Fenster entfernt standen und plauderten, zwei junge Männer, die noch keine dreißig waren und die ich nicht kannte, und eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen, in einem weißen Kleid, das ich ebenfalls nicht kannte.
Ich blickte erneut zum Balkon, und diesmal begegnete ich Claires Blick, der ruhig auf mir ruhte. Sie lächelte mir zu, mit einem Lächeln, das man gemeinhin seltsam nennt; vielleicht brachte mich aber auch nur das Halbdunkel, in dem ihr Gesicht lag, auf diesen Gedanken.
Sie hatte ihre Arme zu beiden Seiten des Körpers abgewinkelt und umfaßte mit den Händen die obere Stange des Geländers, an dem ihre Hüften lehnten.
Sie war sehr schön. Alle sagten, daß sie schön sei. Und wieder einmal dachte ich an jenem Abend, daß sie recht hatten.
Ich näherte mich der Fensteröffnung, ohne allerdings bis zum Balkon zu gehen. Claire bewegte sich nicht. Ich betrachtete hinter ihrer Silhouette die Leute, die auf dem Boulevard vorbeigingen, in der lauen Nacht flanierend, vor den strahlend erleuchteten Schaufenstern. Ich machte diesbezüglich eine belanglose Bemerkung. Claire antwortete mit undeutlicher Zustimmung.
Ich betrachtete ihr Gesicht und sah, daß ihre Augen erneut auf etwas gerichtet waren, in derselben Richtung wie vorhin, diesmal hinter mir. Ich wagte nicht, den Kopf zu wenden, um zu erfahren, ob es dieselbe Gruppe war, die sie auf diese Weise ansah; ich dachte jedoch, daß es so sein müsse, denn ihr Gesicht hatte exakt denselben Ausdruck wie vorhin, als ich sie entdeckt hatte; das heißt, es hatte überhaupt keinen Ausdruck.
Ich machte ein paar Schritte auf dem langen Balkon, der sich über die ganze Breite des Hauses erstreckt. Auf diese Weise gelangte ich zum nächsten Fenster, das geschlossen war, und unwillkürlich warf ich einen Blick ins Innere, durch die Glasscheibe und einen Ausschnitt der Tüllvorhänge.
Die Hausherrin stand gerade an dieser Stelle. Sie sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand, da ich keinen Laut hörte und aus der Bewegung ihrer Lippen nichts ablesen konnte. Madame X... drehte den Fensterriegel und öffnete einen der Flügel der Glastür, um ihren Satz zu wiederholen. Obwohl mir der Tüllvorhang, der ein vollständiges Öffnen verhinderte, im Weg war, schob ich mich durch den Spalt ins Zimmer, um ein kurzes Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Sie hatte mich lediglich zum Spaß gefragt, ob ich mich verstecken würde.
Da mir im Augenblick nichts anderes einfiel, fragte ich sie nach dem jungen Mädchen im weißen Kleid, das ich ihr mit den Augen bezeichnete. Sie wußte jedoch nichts Genaues oder wollte nichts sagen. Sie antwortete mir lediglich, es handele sich um eine Freundin von Claire, die an diesem Abend mit ihr gekommen sei und der sie selbst keine drei Worte habe entlocken können.
Tatsächlich schien das Mädchen den beiden jungen Männern, die mit ihr sprachen, kaum zu antworten. Sie vermied es außerdem, ihnen ins Gesicht zu blicken, und senkte meist ganz den Kopf.
Sie war im übrigen anziehend, hatte eine gute Figur, wie es schien, und ein hübsches Gesicht. Ja, sie war wirklich sehr verführerisch. Von ihrer ganzen Person ging, trotz einer offensichtlichen extremen Jugend, eine «körperliche» Sinnlichkeit aus, aufgrund deren man sie sich viel eher als eine junge Frau vorstellte, als daß man sie mit der zweideutigen Bezeichnung «junges Mädchen» in Verbindung brachte. Und dennoch wirkte sie in ihrem weißen Kleid auch wie ein Kind.
Madame X... hatte mich verlassen, in Anspruch genommen von ihren Pflichten als Hausherrin. Während ich von weitem das junge Mädchen beobachtete, das immer noch seine Augenlider gesenkt hielt, sah ich erneut deutlich Claires Blick auf sie gerichtet. Claire war von der Stelle aus, wo ich mich gerade befand, nicht zu sehen; doch ich wußte sofort, daß sie noch auf ihrem Balkon stand, rückwärts an das Geländer gelehnt,
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