Das Bild - Geschichte einer Obsession
Anne, die dem Erzähler von Claire als ‹vollkommene Sklavin› zur beliebigen Verwendung für seine eigenen sexuellen Zwecke angeboten wird. Aber genau in der Mitte des Buches (‹Abschnitt V› in einem kurzen Werk aus zehn Abschnitten) findet sich eine rätselhafte Szene, in der eine neue Bedeutung von ‹image› eingeführt wird. Claire, die mit dem Erzähler allein ist, will diesem die Reihe von seltsam unverständlichen Fotografien zeigen, auf denen Anne in obszönen Situationen zu sehen ist; und diese werden auf eine Weise beschrieben, daß das, was ursprünglich eine brutal direkte, wenn auch augenscheinlich unmotivierte Situation war, jetzt mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben wird.
Von dieser Zäsur an sieht sich der Leser stets gleichzeitig mit der unmittelbar im Text vergegenwärtigten ‹obszönen Situation und einer indirekten Spiegelung oder Wiederholung dieser Situation) konfrontiert. Von dieser Last (der doppelten Perspektive) wird er erst auf den letzten Seiten des Buches befreit, wenn, wie die Überschrift des letzten Abschnittes verheißt, ‹alles wieder normal wird›. Es wird enthüllt, daß Anne nicht das erotische Spielzeug ist, das Claire dem Erzähler unentgeltlich überlassen hat, sondern Claires ‹Bild› [‹image›], ihre ‹Projektion›, die vorausgeschickt wird, um den Erzähler zu lehren, wie er sie lieben soll.»
Weiter aus Angelique oder Die Verzauberung : « L'image ist erst viel später wieder auf der Bildfläche erschienen. In Italien und Deutschland ging man gerichtlich dagegen vor und verbot es wegen Verstoßes gegen die guten Sitten und Anstiftung zur Gewalt sowie - auf der anderen Seite des Rheins - Verletzung der Ehre der Frauen. Im Paradies der Sex-Shops und der Eros-Center blieb die feministische Lobby allmächtig. In Frankreich, wo die guten Sitten sich sehr schnell entwickelt haben, wird es heute in der populärsten Taschenbuchreihe geführt. Ein großes Versandhaus, naturgemäß genötigt, die Rechtdenkenden, die das Gros seiner Kundschaft ausmachen, schonend zu behandeln, hat sich auch nicht gescheut, einige zehntausend ungekürzte Exemplare zusätzlich zu drucken in dem Augenblick, da bei Grasset das zweite Werk, autobiographisch diesmal, derselben Autorin herauskam.»
Doch zurück zu Jean, Jeanne oder Djinn, wie Hans T. Siepe 1986 bezüglich Robbe-Grillets Roman Djinn (1983) in der Zeitschrift Lendemains schreibt: «Djinn bedeutet die amerikanische Aussprache des amerikanischen Frauennamens Jean, der zugleich aber auch als Jean ein französischer männlicher Vorname ist. In dieser Ambivalenz zwischen Mann und Frau ist auch der Erzähler des Romans ein wechselndes oder doppeltes, androgynes Wesen: mal männlich, mal weiblich. Doch der Name Djinn findet sich hier nicht zum ersten Mal bei Robbe-Grillet. In seinem Roman Topologie d'une cite fantôme von 1976 wird ein gewisser Robert de Berg (hinter dem sich auch der amerikanische Maler Robert Rauschenberg verbirgt) als ‹demi-frère de mon amie Djinn› bezeichnet, also einer Frau namens Jean de Berg.
Nun war 1956 bereits in den Editions de Minuit, wo Alain Robbe-Grillet tätig war, der Roman eines Jean de Berg (Lesart männlich) mit dem Titel L'image erschienen. Von diesem Roman schreibt die Zeitschrift Magazine littéraire (November 1984) anläßlich der jüngsten Wiederausgabe als Taschenbuch: ‹Ein Klassiker, und das zu Recht, der modernen erotischen Literatur, weit überlegen ... der Histoire d'O oder Emmanuelle .›
Zehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung von L'image in Frankreich wurde dieser Roman in einer amerikanischen Übersetzung (New York, Grove Press, 1966) publiziert; der Verfasser Jean de Berg gilt jetzt als eine Frau, Lesart: Djinn de Berg. Wer aber ist Jean de Berg? Dreißig Jahre später, 1985, erscheint bei Grasset ein zweites Buch derselben Autorin unter dem Pseudonym Jeanne de Berg: Cérémonies de femmes (Titel der deutschen Ausgabe: Die Frau). Es enthält minuziöse Beschreibungen ausgeklügelter, abgründiger Zeremonien, ersonnen für einen ausgewählten Kreis von Eingeweihten der Pariser Gesellschaft und mit liturgischer Strenge inszeniert - von «Jeanne, der großen Priesterin des Bizarren». Diesmal aber lüftet Catherine Robbe-Grillet ihr Pseudonym, sie gibt Interviews, tritt in der literarischen Talkshow Apostrophe auf. Das Buch macht Furore, wird in Frankreich zum Bestseller - 40000 Exemplare im ersten Jahr. Die Frau des weltberühmten Schriftstellers Alain Robbe-Grillet
Weitere Kostenlose Bücher