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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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übergegangen, angefangen in ihrer
Hochzeitsnacht, als er sie wie ein Hund gebissen hatte, weil
sie eine Tür zugeschlagen hatte.
Nun, du kannst nicht einfach so gehen, selbst wenn du nur bis
zum Ende des Blocks kommst, bevor dir die Luft ausgeht, sagte
Ms. Praktisch-Vernünftig. Zieh wenigstens diese Jeans aus, wo
man sehen kann, wie breit dein Hintern geworden ist. Und kämm
dich.
Sie hielt inne und war einen Moment nahe dran, die ganze
Sache aufzugeben, bevor sie auch nur zur Eingangstür
gekommen war. Dann entlarvte sie den Rat als das, was er
war - ein verzweifelter Versuch, sie im Haus zu halten. Und
ein listiger obendrein. Es dauerte nicht lange, um eine Jeans
gegen einen Rock auszuwechseln oder sich das Haar
zurechtzuzupfen und mit einem Kamm durchzufahren, aber
für eine Frau in ihrer Situation war es mit Sicherheit lang
genug.
Wofür? Selbstverständlic h, um wieder einzuschlafen. Bis
sie den Reißverschluß an der Seite des Rocks hochgezogen
hatte, würden ihr ernsthafte Zweifel kommen, und bis sie
mit dem Kämmen fertig wäre, würde sie zum Ergebnis
gekommen sein, daß sie einfach einen kurzen Anfall von
Wahnsinn erlebt hatte, einen vorübergehenden Blackout, der
wahrscheinlich mit ihrem Monatszyklus zu tun hatte.
Dann würde sie ins Schlafzimmer zurückkehren und die
Laken wechseln.
»Nein«, murmelte sie. »Das werde ich nicht. Auf keinen
Fall.«
Aber als sie eine Hand auf den Türknauf legte, verweilte
sie wieder.
Sie kommt wieder zu Verstand! rief Ms. Praktisch-Vernünftig,
deren Stimme eine Mischung aus Erleichterung, Jubel und war es möglich? - gelinde Enttäuschung ausdrückte. Halleluja, das Mädchen kommt wieder zu Verstand! Besser spät als nie!
Jubel und Erleichterung der Stimme in ihrem Kopf verwandelten sich in stummes Entsetzen, als sie rasch zum Sims
über dem Kamin ging, den er vor zwei Jahren eingebaut
hatte. Wonach sie suchte, würde wahrscheinlich sowieso
nicht da sein, es gehörte zu seinen eisernen Regeln, daß er es
erst gegen Monatsende dort ließ (»Damit du nicht in Versuchung kommst«, sagte er), aber es konnte nicht schaden,
wenn sie nachsah. Und sie kannte die Nummer des Schlosses; er hatte einfach die erste und letzte Zahl ihrer Telefonnummer vertauscht.
Das WIRD schmerzhaft! schrie Ms. Praktisch-Vernünftig. Wenn du etwas nimmst, das ihm gehört, wird es ziemlich schmerzhaft, das weißt du! ZIEMLICH!
»Ist sowieso nicht da«, murmelte sie - aber sie war da - die
hellgrüne BankCard der Merchant’s Bank mit seinem eingestanzten Namen.
Nimm sie nicht! Wage es nicht!
Aber sie stellte fest, daß sie es wagte - sie mußte sich nur
diesen Tropfen Blut ins Gedächtnis zurückrufen. Außerdem
war es auch ihre Karte, ihr Geld; war das nicht der Sinn des
Eheversprechens?
Aber es ging an sich gar nicht um das Geld, wirklich nicht.
Es ging darum, die Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig
zum Schweigen zu bringen; es ging darum, diese plötzliche,
unerwartete Flucht in die Freiheit zu etwas Notwendigem
statt etwas Freiwilligem zu machen. Ein Teil von ihr wußte,
wenn ihr das nicht gelang, würde sie wirklich nicht weiter als
bis zum Ende des Blocks kommen, bevor die ganze unsichere
Zukunft wie eine Nebelbank vor ihr liegen und sie hastig
kehrtmachen und nach Hause gehen würde, um schnellstens
die Betten neu zu beziehen, damit sie noch vor dem Mittag
den Boden schrubben konnte… und so schwer es zu glauben
war, als sie heute morgen aufgestanden war, hatte sie an
nichts anderes gedacht als daran, die Böden zu schrubben.
Sie achtete nicht auf das Zetern der Stimme in ihrem Kopf,
holte die BankCard vom Sims, ließ sie in ihre Handtasche fallen und ging rasch wieder zur Tür.
Tu es nicht! wimmerte die Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig. O Rosie, dafür wird er dir nicht nur weh tun, dafür
schlägt er dich krankenhausreif, vielleicht bringt er dich sogar um weißt du das denn nicht?
Sie wußte es wohl, ging aber trotzdem weiter, Kopf
gesenkt und Schultern nach vorne gereckt, wie eine Frau, die
bei starkem Gegenwind läuft. Das alles würde er wahrscheinlich tun … aber vorher mußte er sie erst einmal haben.
Diesmal zögerte sie nicht, als ihre Hand den Türknauf
berührte - sie drehte ihn, öffnete die Tür und ging hinaus. Es
war ein wunderschöner, sonniger Tag Mitte April, Knospen
zeigten sich an den Ästen der Bäume. Ihr Schatten fiel, als
wäre er mit einer scharfen Schere aus Kohlepapier ausgeschnitten worden, über die Stufen und das frische Gras. Sie
stand da, atmete die

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