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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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oder
dekorative Baumreihen voneinander getrennt waren - russische Oliven schienen hier besonders en vogue zu sein. Ein
Mann, der mit seiner Hornbrille, den Sommersprossen und
dem auf den Kopf gedrückten, formlosen blauen Hut wie
Woody Allen aussah, goß gerade die Blumen, schaute auf
und winkte ihr verhalten zu. Es schien, als wollte heute jeder
gutnachbarschaftlich sein. Sie vermutete, daß es am Wetter
lag, hätte aber darauf verzichten können. Sie konnte sich nur
allzu leicht vorstellen, wie er ihr später hinterher kam, wie er
geduldig ihrer Spur folgte, Fragen stellte, seine kleinen
Tricks anwandte, um dem Gedächtnis auf die Sprünge zu
helfen, und an jeder Tür ihr Bild zeigte.
Wink zurück. Er soll dich nicht als unfreundliche Zeitgenossin
zur Kenntnis nehmen, unfreundliche Zeitgenossen bleiben einem
im Gedächtnis, also wink einfach zurück und geh weiter.
Sie winkte zurück und ging weiter. Der Drang zu pinkeln
war wieder da, aber damit würde sie leben müssen. Keine
Erleichterung war in Aussicht - vor ihr lagen nichts als mehr
Häuser, mehr Hecken, mehr hellgrüne Rasenflächen, mehr
russische Olivenbäume.
Sie hörte ein Auto hinter sich und wußte, daß er es war. Sie
drehte sich mit weit aufgerissenen, dunklen Augen um und
sah einen rostigen Ford Tempo kaum schneller als mit
Schrittgeschwindigkeit die Straße entlangkriechen. Der alte
Mann hinter dem Lenkrad trug einen Strohhut und einen
Ausdruck verbissener Entschlossenheit zur Schau. Sie drehte
sich rasch wieder um, bevor er ihre eigene ängstliche Miene
registrieren konnte, stolperte und ging dann resolut mit
gesenktem Kopf weiter. Der pochende Schmerz in ihren Nie ren war zurückgekehrt, und nun pochte auch ihre Blase. Sie
schätzte, daß ihr nicht mehr als eine Minute blieb, höchstens
zwei, bis sie es nicht mehr halten konnte. Wenn das passierte,
konnte sie ein unbemerktes Entkommen getrost in den Wind
schreiben. Die Leute erinnerten sich vielleicht nicht an eine
Frau mit hellbraunem Haar, die an einem strahlenden Frühlingsmorgen die Straße entlang ging, aber sie konnte sich
nicht vorstellen, daß sie eine Frau mit hellbraunem Haar und
einem wachsenden dunklen Fleck im Schritt ihrer Jeans vergessen würden. Sie mußte sich des Problems annehmen, und
zwar auf der Stelle.
Zwei Häuser weiter auf ihrer Straßenseite stand ein schokoladenbrauner Bungalow. Die Jalousien waren heruntergelassen, drei Zeitungen lagen auf der Veranda. Eine vierte lag
auf dem Gehweg am Fuß der Eingangstreppe. Rosie sah sich
rasch um, erblickte niemanden, der sie beobachtete, und eilte
hastig durch den Vorgarten des Bungalows und an der Seite
entlang. Der Garten war menschenleer. Ein rechteckiges Blatt
Papier hing am Knauf des Fliegengitters aus Aluminium. Sie
ging mit kleinen, verkrampften Schritten hin und las die vorgedruckte Nachricht: Schöne Grüße von Ann Corao, Ihrer hiesigen Avon-Beraterin! Diesmal konnte ich Sie leider nicht zu Hause
antreffen, aber ich komme wieder! Danke! Rufen Sie mich an unter
555-1731, wenn Sie über die vorzüglichen Produkte von Avon
Kosmetik, reden möchten! Das an den unteren Rand gekritzelte
Datum war der 17.4., vor zwei Tagen.
Rosie sah sich noch einmal um, stellte fest, daß sie auf der
einen Seite von Hecken und auf der anderen von russischen
Oliven vor Blicken geschützt wurde, öffnete Gürtel und
Reißverschluß ihrer Jeans und hockte sich in der Nische zwischen der hinteren Treppe und den LP-Gastanks hin. Es war
zu spät, sich Gedanken zu machen, wer - wenn überhaupt sie aus den Obergeschossen der umliegenden Häuser beobachten konnte. Und außerdem, angesichts der Erleichterung
schienen solche Fragen - zumindest im Augenblick - eher
nebensächlich zu sein.
Weißt du, du bist verrückt.
Ja, selbstverständlich wußte sie das … aber als der Druck
auf ihre Blase nachließ und der Strahl ihres Urins als zickzackförmiges Rinnsal zwischen die Platten der hinteren
Veranda floß, spürte sie, wie plötzlich eine irre Freude ihr
Herz erfüllte. In diesem Augenblick wußte sie, wie es sein
mußte, wenn man einen Fluß in ein fremdes Land überquerte, die Brücke hinter sich in Brand steckte und dann am
Ufer stand, erleichtert aufatmete und zusah, wie die einzige
Möglichkeit der Rückkehr in Flammen aufging.
5
    Sie ging fast zwei Stunden, durch ein unbekanntes Viertel
nach dem anderen, bevor sie zu einer Einkaufspassage im,
wie sie meinte, westlichen Stadtteil gelangte. Vor einem
Geschäft mit dem Schild Paint ‘n Carpet

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