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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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    Die Äbtissin betrachtete den schwer verletzten jungen Mann. Sie hielt ihn für tot. So viel Blut war aus der großen Brustwunde gesickert; an den Rändern war es zu schwarzen Krusten erstarrt. Mit ihm musste sämtlicher Lebensodem entschwunden sein. Sie wollte schon befehlen, die Fensterluke zu öffnen, damit die heimatlos gewordene Seele den Weg zum Himmel finden konnte, als sie plötzlich stutzte. Der Brustkorb des Verletzten hob sich kaum merklich; sein Mund öffnete sich, und er schnappte röchelnd nach Luft.
    Nicht nur sie, auch zwei der Nonnen schreckten erblasst zurück. Die eine schlug ein Kreuz.
    Ihre verstörten Rufe hatten die Äbtissin in der Kapelle gestört, wo sie Zwiesprache mit Gott gehalten und sich von ihm Kraft für das höchste Amt im Kloster erbeten hatte. Manchmal war sie dankbar für die vielen Pflichten, die sie vor trüben Gedanken bewahrten, manchmal war es ihr eine Last, Entscheidungen treffen zu müssen - so auch, als sie erfahren hatte, was geschehen war: Vor der Pforte war ein Verletzter zusammengebrochen. Offenbar hatte er sich mit letzter Kraft nach Saint-Ambrose gerettet. Zunächst hatte niemand gewagt, ihn zu berühren, weil er ein Mann und überdies ein Fremder war. Dann aber hatte sich die Schwester Portaria, die Pförtnerin, ein Herz gefasst und ihn in die Aderlassstube bringen lassen - ein niedriges, kreisrundes und fensterloses Gebäude gleich neben Bad und Kräutergarten. Die Krankenstube mit dem Steinboden wäre der wärmere Ort gewesen, doch die Aderlassstube lag näher an der Pforte.
    Wenn es auch nur wenige Schritte zu überwinden gegolten hatte - die Nonnen hatten sich gewiss damit geplagt, den Verletzten herzuschleppen. Nicht nur mit der Last seines Körpers hatten sie fertig zu werden, sondern auch mit dem Gefühl, Verbotenes zu tun: Für gewöhnlich betrat kein Mann je den Klausurbereich, die Mönche des Nachbarklosters ausgenommen, und diese nur, um die Messe zu lesen und die Beichte abzunehmen. Bei Letzterer musste aus der Ferne stets eine weitere Nonne die Beichtende beobachten, auf dass sie - und sei es nur, um ihre Sünden zu benennen - nicht allein mit einem Mann war. Nur kranke Schwestern durften mit dem Priester allein sein - wohl weil ihr Körper zu geschwächt war, um zu sündigen.
    Zu geschwächt, um die Keuschheit der Schwestern zu bedrohen, war auch dieser Verwundete, der genau besehen die Klausur nicht eigenmächtig betreten hatte, sondern hineingetragen worden war.
    »Was sollen wir nun tun?«, fragte eine der beiden Nonnen, Mathilda mit Namen, mit zarter Stimme. Ihr Körper bebte.
    So bin ich einst auch gewesen, dachte die Äbtissin. Hilflos, weltfremd, schwach. Sie straffte die Schultern, um das eigene Unbehagen nicht zu zeigen.
    »Er lebt. Vielleicht nicht mehr lange, aber noch lebt er«, stellte sie fest. »Wir müssen den Blutfluss stillen und die Wunde nähen. Und wir müssen zusehen, dass der Leib zu Kräften kommt.« Sie blickte vom Verletzten hoch. »Ruft die Krankenschwester, damit sie sich seiner annehmen kann! Und sagt der Schwester Cellerarin, dass sie Brombeerwein mit etwas Honig erwärmen soll!«
    Gewiss war der Verletzte zu schwach, um auch nur einen Schluck zu trinken, aber die Schwester Pförtnerin nickte eifrig und ging.
    Die Äbtissin beugte sich tiefer über den Mann. Seine Lider waren einen winzigen Spalt weit geöffnet, und seine Stirn war gerunzelt - vielleicht der Schmerzen wegen, die diese erbarmungswürdige Kreatur beutelten, vielleicht, weil die Ohnmacht nicht schwarz und abgründig genug war, um böse Träume zu schlucken.
    Woher nur die Wunde stammt?, überlegte die Äbtissin. Ein Tier könnte ihn angegriffen haben oder - und dieser Gedanke war noch beängstigender - ein Mensch. Sein Anblick, wie er da reglos am Boden lag, war erbärmlich, doch wäre er ihr aufrecht entgegengetreten, das sah sie sofort, er wäre ein stattlicher Mann gewesen, einer der größten, den die Äbtissin in ihrem Leben gesehen hatte, wenn auch nicht so kräftig und breitschultrig wie jene, die schwer zu arbeiten oder zu kämpfen hatten. Sein Gesicht war elend blass, die Nase fein geschnitten, die Lippen voll. Als die Äbtissin vorsichtig die Kapuze zurückzog, die den Kopf des jungen Mannes bedeckte, stellte sie fest, dass sein braunes Haar von kräftigem Wuchs war. Und sie sah noch mehr.
    »Gütiger Himmel!«, stieß Mathilda aus und deutete auf seinen Hinterkopf, staubig, schweißverkrustet

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