Das bisschen Kuchen: (K)ein Diät-Roman (German Edition)
Rottenmeier, wie Niki sie innerlich taufte. »Das ist Glaubersalz. Die Wirkung ist durchschlagend. Glauben Sie mir.«
Folgsam trank Niki das Glas leer. Kurze Zeit später wusste sie, warum die anderen Gäste immer wieder aus dem Raum stürzten. Der Teil ihres Körpers, der für die Kanalisation zuständig war, explodierte förmlich. Panisch lief sie zur Schwingtür, hinter der sich gleich mehrere Toiletten verbargen. Dann rauschte es aus ihr heraus, als hätte sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden einen ganzen Delikatessenladen geplündert. Die begleitende Geräuschkulisse trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht.
Es war furchtbar. Es war demütigend. Und es war kaumzu glauben, was da alles mit der Gewalt eines Vulkanausbruchs ihre Eingeweide verließ.
Niki war kaum an ihren Tisch zurückgekehrt, als das Ganze wieder von vorn losging. Grinsend winkte ihr Walburga zu, die an einem der Nebentische saß. Sie trug einen türkisfarbenen Jogginganzug und amüsierte sich köstlich über Nikis weit aufgerissene Augen und ihren watschelnden Laufschritt.
»Sommerschlussverkauf!«, rief sie. »Alles muss raus!«
Als Niki zum dritten Mal zu ihrem Stuhl zurücktrottete, wurde sie von Fräulein Rottenmeier erwartet.
»Wir haben hier eine Tischordnung«, erklärte sie. »Ihr Platz ist drüben am Fenster.«
Sie zeigte auf einen Tisch, an dem ein menschlicher Petziball hockte. Der Mann wog locker zweihundert Kilo. Seine Arme reichten kaum bis zur Tischkante, da er wegen seines unförmigen Bauchs etwa einen halben Meter Abstand wahren musste. Mit versteinertem Gesichtsausdruck knabberte er an einem Brötchen herum.
»Ich möchte lieber allein bleiben«, flüsterte Niki. »Haben Sie nicht noch einen Einzeltisch, nur für mich?« Sie zeigte auf die vielen leeren Tische, die nicht eingedeckt waren.
Fräulein Rottenmeier schüttelte ungehalten den Kopf. »Es gehört zu unserem Konzept, dass die Gäste ihre Erfahrungen austauschen. Tisch sieben. Ich mache Sie sogleich mit Herrn Holst bekannt.«
Walburga hatte alles mit angehört. »Bingo!«, gluckste sie, als Niki an ihr vorbeiging. »Leo ist die Sahne auf demKnäckebrot. Du brauchst aber jede Menge erotische Fantasie, falls er dich antörnt. Ich empfehle die äußerst bequeme Pythonstellung, bei der man sich gegenüberliegend …«
»Kein Wort mehr«, fauchte Niki. »Ich habe null Bedarf an schmuddeligen Tipps!«
Sie folgte Fräulein Rottenmeier, die bereits mit dem Mann sprach. Der erhob sich schwer atmend und streckte Niki eine Hand hin, deren Finger an zu dick geratene Wiener Würstchen erinnerten. Er war etwas kleiner als sie.
»Leo Holst«, sagte er. »Ist mir ein Vergnügen.«
Im Grunde sah er gar nicht so übel aus. Dunkles, welliges Haar, braune Augen mit goldenen Pünktchen, nettes, etwas melancholisches Lächeln. Ein Brötchenkrümel klebte an seiner feuchten Unterlippe. Darunter war Notstandsgebiet. Gleich drei Doppelkinne ruhten auf dem geöffneten Hemdkragen. Sein aufgeblähter Bauch und die seitwärts ausgestellten Plattfüße machten ihn vollends zur bedauernswerten Witzfigur.
Aber war Niki nicht selbst eine Witzfigur? War es das, was Wolfgang in ihr sah? Seit sie das dürre Wesen an seiner Seite gesehen hatte, war das wohl eine traurige Gewissheit.
»Annika Michels«, presste sie hervor. »Ich, äh, muss jetzt leider zum Arzt. Man sieht sich.«
»Um halb zwölf beginnt das Mittagessen«, sagte Fräulein Rottenmeier. »Pünktlich.«
Essen war das Letzte, woran Niki jetzt denken konnte. Wenn sie nicht alles täuschte, rumorte es schon wieder in ihrer Kanalisation. Ohne ein weiteres Wort rannte sie los.
»Viel Spaß, Lady Dünnpfiff«, ätzte Walburga hinter ihr her.
Niki hätte sie am liebsten mit ihrem türkisfarbenen Jogginganzug erwürgt.
Doktor Mannheimer war ein drahtiger Mittfünfziger, der den Charme einer geladenen Pistole verbreitete. Seine abgezehrten Gesichtszüge und das militärisch kurz geschnittene graue Haar machten den ersten Eindruck auch nicht besser. Ängstlich saß Niki auf dem Besucherstuhl und zog den Bademantel fest zu, während er mit dem schnarrenden Tonfall eines ermittelnden Kommissars ihre Daten abfragte.
»Alter? Gewicht? Vorerkrankungen?«
Stockend antwortete sie ihm. Sie fühlte sich wie eine Schülerin, die beim Diktat gemogelt hatte. Dieser Arzt gab einem auf der Stelle das Gefühl, etwas Furchtbares angestellt zu haben. Ob er wirklich beim Geheimdienst gewesen war?
Ihre Augen schweiften durch das Zimmer.
Weitere Kostenlose Bücher