Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
gebreitet.«
Pat Conroy beschreibt hier einen typischen Mechanismus in gestörten Familien, in denen ein Kind zum Symptomträger wird, zum »auserwählten« Kind, das besonders auffällig, besonders krank, besonders belastet ist, weil es das Leid der ganzen Familie in sich vereint.
Über seine eigene Rolle in der Familie sinniert Tom, der den Erwartungen seiner Eltern so sehr zu entsprechen versucht, dass er sich schließlich fast selbst verliert:
»Und ich? […] Welche Rolle war mir zugefallen? Enthielt sie Elemente der Größe oder des Scheiterns? Meine Bestimmung war offenbar, die Normalität in der Familie zu verkörpern. Ich war das ausgeglichene Kind, die geborene Führernatur, die selbst unter heftigem Beschuss kühle Gelassenheit bewahrte. […] Ich benahm mich wie ein neutrales Land, ich war die Schweiz innerhalb unserer privaten Völkerfamilie. Ich versuchte, ein wahrer Ausbund an Rechtschaffenheit zu werden, und beugte mich ehrfurchtsvoll dem Diktat, das von allen Eltern so heiß ersehnte Kind ohne Fehl und Tadel zu spielen.«
Rollenzuschreibungen sind neben der Geschwisterfolge auch von der jeweiligen Familie und deren Bedürfnissen abhängig. Tom Wingo spürt, dass seine Familie ein »normales«, annähernd perfektes Kind braucht, um das familiäre Gleichgewicht zu halten. Er selbst braucht die Liebe und Anerkennung seiner Eltern und bemüht sich deshalb, die vorgegebene Rolle zu deren Zufriedenheit auszufüllen. Hingebungsvoll verkörpert er über viele Jahre hinweg den Mustersohn und das Gegengewicht zu seiner kranken Zwillingsschwester, dem »geheimen Schandfleck« der Familie, bis er an seiner nicht vollzogenen Ablösung von seiner Herkunftsfamilie und dem Bedürfnis, es allen recht zu machen, fast zerbricht.
Wie bei den fiktiven Wingos gibt es in jeder Familie unbesetzte Nischen oder Rollen, die von ihren Mitgliedern ausgefüllt werden sollen. Es geht bei der Rollenverteilung um das große Ganze, eine Familie ist wie ein menschliches Mobile, das sich miteinander austariert und in der Waage hält. So kann selbst eine unangenehme Rolle wie etwa die eines Störenfrieds für die Stabilität einer Familie wichtig sein, weil sie von anderen, schlimmeren Problemen ablenkt.
Rebelliert ein Kind gegen eine vorgeschriebene Rolle, kann das familiäre System kippen – oder sich im Idealfall weiterbewegen und auf einem gesünderen Niveau neu einpendeln. Familiäre Rollen können aus unterschiedlichen Gründen auch einmal durcheinandergeraten, sodass alle Mitglieder gezwungen sind, sich neue Rollen zu suchen und neuen Aufträgen zu gehorchen, wie es in Ulis Familie geschehen ist.
Uli ist ein fröhlicher Junge, er ist das älteste von drei Geschwistern. Mit zehn Jahren erleidet er plötzlich einen allergischen Schock, seine Nieren versagen. Mehrere Wochen verbringt er im Krankenhaus, die Mutter wacht Tag und Nacht an seiner Seite. Der Vater fährt vor und nach der Arbeit ins Krankenhaus. Die Geschwister werden von den Großeltern betreut. Alle machen sich Sorgen. Die Ärzte können Ulis Leben retten, aber nicht seine Gesundheit. Um zu überleben, muss Uli fortan dreimal die Woche für mehrere Stunden zur Blutwäsche in ein 40 Kilometer entferntes Krankenhaus. Seine Mutter gibt ihren geliebten Beruf auf, um sich um Uli kümmern zu können. Die Geschwister werden angehalten, vorsichtig mit ihrem kranken Bruder umzugehen. Keinen zusätzlichen Ärger zu machen. Die Mutter hat weniger Zeit für ihre beiden anderen Kinder. Der Vater arbeitet mehr, um den fehlenden Verdienst der Mutter auszugleichen. Zu Hause dreht sich alles um Uli.
»Uli, Uli, Uli, irgendwann konnte ich es nicht mehr hören!«, ruft seine Schwester Susanne Jahre später. »Und kaum spreche ich so was aus, bekomme ich Schuldgefühle. Er konnte doch nichts dafür. Er war doch so krank! Aber ich war auch noch da. Ich und Matthi, mein kleinerer Bruder. Für uns hatten meine Eltern keine Kraft mehr, kein Auge mehr. Die Botschaft war klar: Wir mussten funktionieren, anders ging es nicht.«
Susanne hat das erlebt, was Kinder häufig durchmachen, wenn ein Geschwisterkind krank wird. Die gesunden Kinder bekommen dann oft den Auftrag, pflegeleicht zu sein, damit die elterlichen Kapazitäten auf das kranke Kind gerichtet werden können. Einsicht, Mitleid, Wut, Schuldgefühle sind typische Gefühlszyklen, die sich in den gesunden Geschwisterkindern abspielen.
Die Erfahrung, immer nur die zweite Geige zu spielen, ist prägend – sie kann dazu führen,
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