Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Kummerkasten, bestem Freund, erwachsenem Gesprächspartner vor allem liebevoller Lebensgefährte sein. Wie bei jeder Rollenumkehr werden altersungemäße Aufgaben vom Kind verlangt, die es überfordern und es darüber hinaus auf ungesunde Art an den Elternteil binden.
»Nachdem mein Vater uns verlassen hatte, hab ich meine Mutter nächtelang, monatelang, letztendlich jahrelang getröstet. ›Du bist der einzige Mann in meinem Leben‹, hat sie oft zu mir gesagt. Direkt nach der Trennung war ich sechs Jahre alt, da hat mich das irgendwie stolz gemacht. Später hat es angefangen, mich zu belasten. Oft hab ich bei ihr im Bett geschlafen, das ging, bis ich in die Pubertät kam. Als ich klein war, war das toll, aber später wollte ich es eigentlich gar nicht mehr und wusste nicht, wie ich ihr das erklären sollte. Sie war so einsam, das hat sie oft gesagt. Als ich älter wurde, war es richtig schwierig, Nein zu sagen. Diese ganze Nähe, das war mir irgendwann zu viel, ich wollte mehr für mich sein, auch nachts natürlich. Irgendwann hab ich mich dann einfach verweigert und meine Tür zugeschlossen, wenn ich meine Ruhe haben wollte. Meine Mutter hat laut nebenan geschluchzt, nun hätte sie auch ihren Sohn verloren. Ich hatte solche Schuldgefühle! Ich hab sie gehasst dafür und mich auch, weil ich so gemein war und sie allein gelassen hab«, erinnert sich Martin.
Kinder, die auf diese Art an ihre Eltern gebunden werden, haben meist große Schwierigkeiten bei der Ablösung. Wut- und Schuldgefühle wechseln einander ab, einige Kinder bleiben für immer zu eng an die Eltern gebunden, andere wehren sich mit Händen und Füßen gegen diese Vereinnahmung, bis hin zum Kontaktabbruch. Auch Martin hat bis heute ein angespanntes Verhältnis zu seiner Mutter. Er meidet die Nähe zu ihr, da er schnell das Gefühl hat, sich ihrer Bedürftigkeit erwehren zu müssen. Nach den sporadischen Treffen mit seiner Mutter fühlt er sich erschöpft und gerät häufig in Streit mit Sonja, seiner Partnerin. Unbewusst trägt er mit ihr die Konflikte aus, die sich seit jeher zwischen ihm und seiner Mutter abspielen.
»Sorg für mich, sei für mich da«, auf diesen Appell reagiert er bis heute allergisch, egal, wer ihn an ihn richtet. Sonja beschwert sich, dass Martin in schwachen Momenten nicht auf sie eingeht, aggressiv oder abweisend wird, wenn sie mal seine Hilfe braucht. Martin hört diese Klage nicht zum ersten Mal, es war schon immer schwierig für ihn, mit den Bedürfnissen seiner Partnerinnen umzugehen. Nachdem zwei für ihn wichtige Beziehungen gescheitert sind, weil er kein Mittelmaß zwischen Geben und Nehmen finden konnte und ihn Wünsche und Forderungen seiner jeweiligen Freundin oft in Wut versetzten, macht er mit Sonja eine Paartherapie. Er will sie nicht verlieren. Vor allem aber will er lernen, aus der alten Rolle des überforderten Kindes auszusteigen und seiner Lebensgefährtin ein erwachsener, souveräner Partner zu sein. Der Weg dahin ist steinig, Martin übt, seine eigenen Bedürfnisse zu formulieren und Grenzen zu setzen – ohne schlechtes Gewissen. Sonja versteht, dass ihr in Konflikten nicht ihr erwachsener Freund gegenübersteht, sondern sein kindliches Ich, das gerade einen Kampf mit seiner überfordernden, vereinnahmenden Mutter ausficht.
Im Laufe der Zeit gewinnt Martin immer mehr Vertrauen in Sonja und die gemeinsame Beziehung, die ihm genug Raum lässt. Als Martin sich ganz sicher ist, macht er Sonja einen Heiratsantrag. »In guten wie in schlechten Zeiten«, verspricht er ihr. Aber er hat einen Wunsch: Er möchte keine große Hochzeit, er will nicht für andere feiern, sondern an diesem Tag nur auf sich und Sonja achten. Sie entscheiden sich, im Beisein ihrer zwei besten Freunde im Standesamt zu heiraten und anschließend in die Flitterwochen zu fahren. Martin ist glücklich. Sonja ist glücklich. Martins Mutter tobt und ist enttäuscht. Aber dieses Mal lässt Martin kein Schuldgefühl zu, er wird seine Vergangenheit und seine Mutter nicht ändern können, aber bei jedem Schritt in der Gegenwart und in der Zukunft wird er darauf achten, nicht wieder in die alte Rolle zu geraten. Außerdem gibt es neue Rollen, denen er gerecht werden möchte: die des Ehemanns und Vaters. Diese Rollen hat er sich ausgesucht.
Mehrgenerationale Teufelskreise der Rollenumkehr – Wenn die familiäre Geschichte sich wiederholt
» Die menschliche Psyche ist ein Mehrgenerationenphänomen. Die schweren körperlichen und psychischen
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