Das Blumenorakel
Gänseblümchen neben ihrem linken FuÃ, dann begann sie, die einzelnen Blütenblättchen auszuzupfen. »Er liebt dich, er liebt dich nicht, er â¦Â« Unauffällig zupfte sie am Ende zwei Blättchen auf einmal ab, damit das Orakel gut ausging.
»Er liebt mich«, seufzte Suse hochzufrieden. »Ich wusste es doch!« Sie blätterte ein wenig in Floras Buch, dann hob sie den Kopf. »Du könntest mir ruhig mal ein wenig Brunnenkresse schenken.«
»Und was will ich damit sagen?« Flora kicherte.
»Folge dem Ruf deines Herzens.«
»Das könnte dir so passen! Nein, von mir bekommst du höchstens â¦Â« Flora sprang auf, lief hinter die Bank, rupfte dort mit spitzen Fingern etwas ab und kniete mit einem Büschel Grün in der Hand vor Suse nieder. »Brennnesseln!«, sagte sie pathetisch.
»Brennnesseln? Was bedeuten denn die?«
»Sei vorsichtig, damit du dir vor Ãbermut nicht die Finger verbrennst. Da, nimm!«, antwortete Flora und bewarf die Freundin übermütig mit den kratzigen Blättern.
Suse kreischte auf, und Flora brach in lautes Gelächter aus.
»Schau mal, hier steht, dass es die Sprache der Blumen schon seit ewigen Zeiten sowohl im Orient als auch im Abendland gibt«, sagte Suse, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten. »Und dass die Bedeutung, die einer Blume zugesprochen wird, entweder von ihrem Namen oder von ihren Eigenschaften herrührt. Auch alte Sagen oder die Verwendung der Pflanzen spielen eine Rolle â¦Â« Herausfordernd schaute Suse ihre Freundin an. »Nun, dann frage ich dich, du holde Göttin der Blumen â was könnte wohl eine Klette bedeuten?«
»Das ist doch völlig klar: Jemand ist anhänglich wie eine Klette. Oder wie dein Franz!«, entgegnete Flora und schon ging das Gelächter wieder los.
Am siebten April, dem Karfreitag, kamen endlich Helmut und Valentin von ihrer langen Reise zurück. Hannah liefen vor Freude Tränen die Wangen hinab. Sie und Helmut umarmten und küssten sich, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Gustav und Siegfried wandten sich peinlich berührt ab â mussten sich die Eltern so unmöglich aufführen? Flora hingegen verspürte ein leises Sehnen in ihrer Brust â wie es sich wohl anfühlte, so zu lieben?
Je weiter der Frühling voranschritt, desto gröÃer und abwechslungsreicher wurden Floras SträuÃe: Sie schnitt blühende Forsythienzweige, dazu Weidenkätzchen und Erle. Als sich endlich die frühen Narzissen- und Tulpensorten im Garten hinter dem Haus zeigten, stieà Flora einen Seufzer der Erleichterung aus. Im Herbst hatte sie so viele Zwiebeln wie noch nie in der Erde verbuddelt â und ihr Vater hatte wegen der Kosten ziemlich gemurrt. Zum Glück waren die teuren Zwiebeln wenigstens nicht von den Mäusen verspeist worden. Und so drängte sich jetzt dicht an dicht das Grün der Tulpen und Narzissen aus der Erde.
Der Gedanke, dass sie nun doch keine Blumenbinderin werden würde, war weit weg. Immerhin hatte sie ihre Blumen auf den Wiesen und im Garten. Und niemand konnte ihr verbieten, sich in ihrer freien Zeit damit zu beschäftigen.
Als Mitte April der Brief ankam, war Flora genauso fassungslos wie alle anderen.
6 . K APITEL
V erehrtes Fräulein Kerner!
Erinnern Sie sich noch an mich â an Friedrich Sonnenschein aus Baden-Baden? Ich durfte Sie und Ihre verehrte Frau Mutter im Januar kennenlernen. Ihre Adresse habe ich freundlicherweise von der Hennenwirtin erhalten, sie lässt Sie hiermit freundlich grüÃen.«
Helmut runzelte die Stirn. »Darf die Frau das überhaupt? Unsere Adresse an Hinz und Kunz herausgeben?«
»Helmut«, mahnte Hannah. »Lies weiter, Kind!«
»Noch heute bin ich Ihnen in Dankbarkeit verbunden für die Hilfe, die Sie meinem Vater in seiner misslichen Lage nach seinem Treppensturz haben angedeihen lassen.«
»Der schreibt aber gestelzt!«, sagte Gustav.
»Wen habt ihr denn von der Treppe geschubst?«, ulkte sein Bruder.
Flora warf den beiden über den Abendbrottisch hinweg einen strengen Blick zu. Dann sah sie hinüber zu den Eltern, die betont gleichgültig dreinschauten. Doch Flora entging nicht, wie Hannah nach Helmuts Hand griff und diese drückte, als wollte sie sich dadurch gegen jegliche Unbill wappnen.
Flora holte Luft und zwang sich, ohne Hast weiterzulesen.
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