Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
verändert? Das Licht, das Sie entzündet haben, wurde ausgelöscht. Die
Hoffnung vernichtet. Diese elende Welt dreht sich morgen genauso stumpfsinnig
und brutal weiter, wie sie heute endet.«
    Ich kenne diese Worte. Der Herzog von Orléans sagte sie zu
Alex, und Alex hat sie niedergeschrieben. In ihrem letzten Eintrag. Mit ihrem
letzten Atemzug.
    Ich bin müde, so müde. Und schwach. Alles verblasst. Aber
plötzlich muss ich lachen. Ich kann mir nicht helfen. Weil ich es jetzt
verstehe. Ich verstehe, was Alex mir sagen wollte. Ich kenne die Antwort. Ich
weiß, wie das Tagebuch endet. Nicht mit einem Blutfleck, nicht mit dem Tod.
    Â»Ach, toter Mann, Sie täuschen sich gewaltig«, sage ich zu
Amadé. »Die Welt mag vielleicht genauso stumpfsinnig und brutal weiterdrehen
wie zuvor, aber ich mache dabei nicht mit. Begreifen Sie das nicht? Ich nicht.«

Paradies

    Â 
    Nun trat mein Führer auf verborgnem Gang
    Den Rückweg an entlang des Baches Windung
    Und wie ich rastlos folgend aufwärts drang,
    Da blickte durch der Felsenschlucht ob’re Rundung
    Der schöne Himmel mir aus heitrer Ferne
    Und wir entstiegen aus der engen Mündung
    Und traten vor zum Wiedersehen der Sterne
    Dante

  86  
    Â»Andi. Andi, wach auf!«
    Ich höre eine Stimme. Von weit her.
    Â»Bitte, Andi, wach auf.«
    Ich würde gern, weiß aber nicht, wie.
    Â»Komm zurück. Bitte.«
    Ich liege im Dunkeln. Ich bin müde. Mein Kopf schmerzt. Sehr
sogar.
    Â»Bitte, Andi. Für mich.«
    Ich hole tief Luft. Und öffne die Augen.
    Â»Virgil.«
    Â»Gott, hast du mir Angst gemacht.«
    Â»Virgil, ich war weg.«
    Â»Ja, das hab ich gemerkt.«
    Â»Nein, wirklich weg«, sage ich mit heiserer Stimme. »Im achtzehnten
Jahrhundert. In Paris. Ich … ich bin gerannt. Ich wollte dich finden. Konnte es
aber nicht. Und bin gestürzt. Und ein paar Typen … sie waren am Strand … haben
mir geholfen. Und wir sind in Paris rausgekommen, aber nicht in diesem Paris.
In einem anderen. In dem von 1795.«
    Er sieht mich noch besorgter an. Er leuchtet mir mit der
Taschenlampe ins Gesicht und berührt dann meinen Kopf.
    Â»Deine Stirn blutet«, sagt er. »Du musst dich selbst k.o.
geschlagen haben. Du hast geträumt oder halluziniert. Irgend so was.«
    Â»Ich war dort, Virgil. Wirklich.«
    Â»Aha. War der Blechmann aus dem Zauberer von Oz auch dabei?«
    Â»Es war real! Das schwöre ich«, protestiere ich fast schon
hysterisch.
    Â»Schon gut, beruhige dich. Wir müssen jetzt raus aus dem
Zauberland von Oz. Die fliegenden Affen sind noch in der Nähe, und sie mögen
Jungs aus den Pariser Vorstädtennicht besonders.« Er versucht, mich aufzurichten.
»Kannst du stehen?«
    Ich versuche es. Ich versuche, mich aufzusetzen, aber es tut
zu sehr weh. Virgil öffnet meine Jacke und schreckt zurück. Am unteren Teil
meines Brustkorbs ist eine Schnittwunde, die ebenfalls blutet.
    Â»Sieht schlimmer aus, als es ist«, sagt er. »Sie ist nicht
tief, und es nichts ist gebrochen, glaube ich.«
    Virgil leuchtet mit der Taschenlampe herum. Rostige
Eisenklammern hängen an der Wand. Verbogene und zerbrochene Metallteile stehen
aus dem Boden und der Decke heraus.
    Â»Das ist ein alter Kabelschacht«, sagt er. »Du hast Glück
gehabt, dass du dich nur geschnitten hast und nicht aufgespießt worden bist. Ich
wusste nicht mal, dass es diesen Tunnel gibt. Er ist auf keiner Karte
eingezeichnet. Wo sind deine Sachen?«
    Ich sehe mich um. Meine Tasche liegt auf dem Boden neben mir.
Meine Gitarre vor mir. Virgil greift danach. Er flucht, als er sie aufhebt.
    Â»Was ist?«
    Â»Da ist ein Wasserloch. Genau hier. Ein tiefes. Wenn du nicht
schon vorher gestürzt wärst … wenn du nur ein paar Schritte weitergegangen
wärst – was sage ich, tatsächlich bloß einen einzigen.«
    Aber das habe ich nicht getan. Diesen Schritt habe ich nicht
gemacht.
    Ich setze mich auf und bemerkte, dass Virgil außer der
Taschenlampe nichts bei sich hat.
    Â»Wo sind deine Sachen?«, frage ich ihn.
    Â»Bei Jules, hoffe ich. Ich hab die beiden gefunden – ihn und
Khadija –, direkt bevor die Bullen auftauchten. An der Rue d’Acheron. Ich
schätze, sie sind rausgekommen.«
    Ich erinnere mich an die Rue d’Acheron. Sie ist ziemlich weit
vom Strand entfernt. Er hätte weitergehen können, nachdem er schon mal

Weitere Kostenlose Bücher