Das Blut der Lilie
bei uns. Wie immer kam er spät
nach Hause, zerzaust und übernächtigt und roch nach Labor. Geräuschlos kam er
herein und setzte sich auf die Sofakante, als wäre er nur zu Besuch. Distanziert.
Abgesondert von uns. Ein scheuer Bewunderer.
»Moo-Shu-Schweinefleisch?«, frage ich jetzt meine Mutter.
Sie nickt, dann runzelt sie die Stirn. »Die Augen stimmen
nicht«, sagt sie. »Ich muss die Augen richtig hinkriegen.«
»Das wirst du, Mom«, antworte ich.
Aber das wird sie nicht. Vermeer, Rembrandt und da Vinci
zusammen würden das nicht schaffen. Selbst wenn sie die Farbe träfen â ein
klares, verblüffend helles Blau â, würden sie es nicht hinkriegen, weil Trumans
Augen vollkommen durchsichtig waren. Wie sagt man so schön? Das Fenster zur
Seele? Genauso war es. Wenn man in seine Augen blickte, konnte man alles sehen,
was er dachte, fühlte und liebte. Man sah Lyra und Pan. Den Tempel von Dendur.
Feuerwerksraketen. Garri Kasparow. Beck. Kyuma. Hotdogs mit Chili. Derek Jeter.
Und uns.
Ich gehe in die Küche und gebe unsere Bestellung auf: Moo
Shu, zwei Eiersandwiches, Sesamnudeln. Willie Chen bringt das Essen. Ich kenne
die Lieferanten inzwischen und rede sie mit dem Vornamen an. Ich richte zwei
Teller her und stelle Moms Teller neben ihre Staffelei. Sie beachtet ihn nicht,
aber mitten in der Nacht wird sie ein bisschen davon essen. Das weià ich, weil
ich gewöhnlich gegen zwei aufwache und hinuntergehe, um nach ihr zu sehen.
Manchmal malt sie noch. Manchmal starrt sie aus dem Fenster.
Heute Abend esse ich allein wie jeden Abend. In unserem
groÃen, leeren Esszimmer. Das ist gar nicht so schlecht. Ich kann mich mit
meiner Musik beschäftigen, niemand fragt mich nach meiner verpatzten Mathearbeit,
niemand schreibt mir vor, wann ich zu Hause zu sein habe, keiner interessiert
sich für Name, Adresse und Absichten des Kleinkriminellen, der zufällig in
meinem Bett gelandet ist.
»Iss etwas«, sage ich eine halbe Stunde später, als ich
meiner Mutter einen Gutenachtkuss gebe.
»Ja. Ja. Das werde ich«, antwortet sie auf Französisch,
während sie immer noch mit gerunzelter Stirn auf Trumans Augen starrt. Sie ist
Französin, meine Mutter. Sie heiÃt Marianne LaReine. Machmal spricht sie
Englisch, manchmal Französisch. Die meiste Zeit spricht sie gar nicht.
Ich gehe nach oben mit dem iPod in der Hand. Ich habe vor,
mit Pink Floyd einzuschlafen. Das ist meine Hausaufgabe.
Vor ein paar Tagen habe ich Nathan ein paar Stücke von mir
gegeben. Demos von Songs, die ich geschrieben habe. Ich habe einen Mix aus
verschiedenen Taktarten und ein paar coole Effekte eingebaut. Die verschiedenen
Gitarren- und Gesangsteile habe ich gesampelt und einen Bass Loop darunter
gelegt. Das Ganze habe ich Plaster
Castle genannt. Ich fand die Songs ganz okay. Irgendwas in der
Richtung von »Sonic Youth trifft Dirty Projectors«. Nathan fand sie nicht okay.
»Grässlich«, sagte er zu mir. »Ein lärmiger Mischmasch. Du
musst lernen, mit weniger mehr zu erreichen.«
»Danke, Nathan. Vielen herzlichen Dank«, antwortete ich
wirklich eingeschnappt. »Hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen sagen,
wie ich das machen soll?«
Sein groÃartiger Rat bestand darin, der Gitarrenphrase am
Anfang von Shine On
You Crazy Diamond zu lauschen. Die habe David Gilmore
geschrieben, sie sei nur vier Noten lang, klinge aber genau so, wie Traurigkeit
sich anfühlt. Ich erwiderte, ich bräuchte keinen alten Kiffer, der mir sagt,
wie sich Traurigkeit anfühlt. Das wisse ich selbst.
»Das reicht nicht«, sagte er. »Mein Hund weià auch, wie sich
Traurigkeit anfühlt. Worauf es ankommt, ist: Kannst du dieses Wissen
ausdrücken? Dieses Gefühl? Das ist es, was euch unterscheidet.«
»Wen unterscheidet? Mich von einem Hund?«
»Einen Künstler von einem Schwachkopf.«
»Also bin ich ein Schwachkopf? Das ist das letzteMal, dass
ich Ihnen was von mir zu hören gebe.«
Nathans Antwort lautete: »Eines Tages im Jahr 1975 war ein
Mann namens David Gilmore traurig. Na und? Wen interessiert das schon? Mich.
Warum? Wegen dieser einen unglaublichen Phrase. Weil sie Bestand hat. Wenn du
Musik schreiben kannst, die Bestand hat â bravo! Bis dahin sei still und
studier die Werke von Leuten, die es können.«
Die meisten meiner Lehrer im St. Anselm behaupten, ich sei
ein Genie. Ich könnte alles
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