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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Tru«, sagte er mit belegter Stimme. Und
dann zog er meinen Bruder an sich und umarmte ihn.
    Â»Ich liebe dich. Euch beide. Das wisst ihr doch, nicht
wahr?«, sagte er, während er Truman festhielt und mich ansah.
    Von Truman kam ein gedämpftes Ja. Ich nickte irgendwie
verlegen. Es fühlte sich komisch an, als hätte man ein zu kostbares Geschenk
gekriegt von einem Verwandten, den man kaum kennt. Ich hörte ein Schniefen. Mom
stand in der Tür. Ihre Augen waren feucht.
    Einen oder zwei Monate lang ging es gut. Und dann schaffte er
es – er knackte das Genom. Er bekam den Nobelpreis und kam praktisch überhaupt
nicht mehr nach Hause. Er reiste nach Stockholm, Paris, London und Moskau.
Selbst wenn er in New York war, kam er erst heim, wenn wir schon im Bett lagen,
und war schon wieder fort, bevor wir aufstanden. Es gab noch mehr Streit. Und
dann, eines Nachts, nachdem wir ihn zwei Wochen lang überhaupt nicht gesehen
hatten, ging Truman in sein Arbeitszimmer und holte sich den Schlüssel zurück.
Ich sah ihn draußen im Hinterhof, wie er ihn in der Hand hielt und zum
Abendstern hinaufsah. Er musste mir nicht sagen, was er sich wünschte, ich
wusste es. Ich wusste auch, dass sein Wunsch nie in Erfüllung gehen würde.
Genies sind keine Teamspieler.
    Er hatte den Schlüssel bei sich, als er starb. Er fiel aus
seiner Kleidung, als ein Mitarbeiter des pathologischen Instituts uns seine
Sachen übergab. Er war in der vorderen Tasche seiner Jeans. Ich wusch das Blut
ab, hängte ihn an ein Band und legte es mir um den Hals. Ich habe ihn nie mehr
abgenommen.
    Jetzt nehme ich mein Medikament. Eine Pille mit 25 Milligramm
Trimipramin – Handelsname Qwellify – zwei Mal am Tag. Das steht auf der
Packung. Ich nehme 50 Milligramm zwei Mal am Tag. Manchmal 75. Weil 25 Milligramm nichts mehr unterdrücken – weder die Wut und die Traurigkeit noch
den Drang, vor fahrende Autos zu laufen. Aber es ist tückisch. Nimmt man zu
wenig, kommt man morgens nicht aus dem Bett, nimmt man zu viel, sieht man
Dinge. Kleine Dinge meistens – Spinnen, die die Wand hinaufkriechen –, aber
manchmal auch große – wie meinen toten Bruder, der auf der Straße steht.
    Ich schalte das Licht aus, lege mich aufs Bett, klicke Pink
Floyd auf meinem iPod an und lausche Shine On You Crazy Diamond ,
meine Hausaufgabe. Zuerst hört man etwa zwei Minuten lang irgendwelche fern klingenden
Synthesizer, dann setzt eine melancholische Gitarre ein, dann vier klare und
verblüffende Noten: B, F, G, E .
    Auf einem fiktiven Griffbrett spiele ich im Dunkeln mit. Vier
Noten. Nathan hatte recht. David Gilmore schafft es, Traurigkeit mit vier Noten
auszudrücken.
    Ich höre weiter zu. Den Songs über Wahnsinn, Liebe und
Verlust. Ich höre sie mir wieder und wieder an. Bis ich einschlafe. Und träume.
    Von meinem Vater, der ein Vogelnest mit blauen Eiern hält.
    Von einem kleinen Jungen, der im Himmel für Männer mit Augen
wie schwarze Löcher Geige spielt.
    Von Truman.
    Er ist im Wohnzimmer und steigt aus einem Gemälde. Er kommt
auf mich zu, langsam, mit seltsamen Schritten. Sein Rückgrat ist gebrochen. Er
beugt den Kopf und küsst mich auf die Wange. Seine Lippen, blutleer und kalt,
flüstern mir ins Ohr: Come
on you raver, you seer of visions, come on you painter, you piper, you
prisoner, and shine …
    Â Â 6  
    Â»Hey, Ard! Wo ist dein Albtraum von Mutter?«, brüllt Tillie
    Epstein, eine Oberstufenschülerin von der Slater-Schule, über die Straße.
    Â»Beim Toxen«, brüllt Arden zurück und wirft ihr blondes Haar
über die Schulter.
    Arden ist an diesem schönen Samstagnachmittag auf dem
Heimweg, und wegen ihrer gebräunten Beine, ihrer Wildlederstiefel und ihres
Mikro-Minis drehen sich alle Köpfe nach ihr um. Sie trägt einen breiten Gürtel
um die Hüften. Er hat eine glänzende Schnalle, auf der PRADA steht, was italienisch ist und so viel wie »unsicher«bedeutet. Sie kommt gerade aus
einem Laden und hat eine Diätcola, eine Schachtel Zigaretten und eine Flasche
Evian im Arm. Die beiden ersten Dinge sind ihr Mittagessen, das Evian ist für
ihre Wasserpfeife. Leitungswasser ist ja »totalgiftig«.
    Â»Botoxen oder Detoxen?«, ruft Tillie.
    Â»De.«
    Botoxende Mütter sind schwer kalkulierbar. Die Injektionen
dauern nicht lang. Eine halbe Stunde in der Arztpraxis, ein bisschen

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