Das Blutgericht
zitternden Fingern versuchte er es festzuhalten. Ich riss es ihm weg.
»Was ist denn so verdammt wichtig an diesem Scheißding?«, wollte ich wissen. Ich schlug es auf und entdeckte nichts weiter als endlose Zahlenkolonnen in krakeliger Handschrift.
Die Zahlen sagten mir nichts.
Ihm aber bedeuteten sie anscheinend alles.
»Sie wollen es zurück, nicht wahr? Okay, wird gemacht. Bitte schön!«
Ich riss ein paar Seiten aus dem Buch, knüllte sie in meiner Hand zusammen, und als er daraufhin erschrocken aufschrie, stopfte ich ihm den Papierknäuel in den Mund. Er würgte, aber ich drückte den Knäuel tiefer in seinen Schlund. Dann hielt ich ihm den Mund zu und verschloss mit meiner anderen Hand seine Lippen und Nasenlöcher. Zusätzlich warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihn und starrte ihm in die Augen. Wir waren nur Zentimeter auseinander, und ich sah, wie seine Pupillen sich weiteten, als er realisierte, dass er sich geirrt hatte. Er war sterblich.
Bestürzte Schreie ertönten hinter meinem Rücken. Menschen setzten sich in Bewegung. Hände zerrten an mir. Aber ich vertraute darauf, dass Rink mir die FBI-Typen lange genug vom Leib hielt, dass ich die Sache zu Ende bringen konnte. Dantalion bäumte sich noch einmal unter mir auf, sein allerletzter Versuch, sich zu befreien, aber jetzt konnte er mich nicht mehr aufhalten.
Es dauerte nicht lange.
Ich war mir nicht sicher, dass er tot war, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
»Er ist tot, Hunter«, sagte Rink. »Du kannst dich entspannen.«
Ich sah auf den Mann unter mir herab. Marianne und Bradley waren jetzt nicht mehr in Gefahr. Der Tod der alten Dame war gerächt.
Seine Augen waren weit aufgerissen, blass und milchig im Tod.
Das Gewebe um seinen Mund war geschwärzt, die Lippen blau. Entlang seinem Kinn waren Äderchen aufgeplatzt.
»Da hat er doch noch ein bisschen Farbe bekommen.«
45
Rink und ich statteten dem örtlichen FBI-Büro einen nicht ganz eingeplanten Besuch ab. Wir trugen Handschellen, und man behandelte uns, als ob wir schuld daran wären, dass mehr als zwei Dutzend Menschen abgeschlachtet worden waren. Aber dann tauchte Walter Hayes Conrad IV. auf und trat – bildlich gesprochen – einigen Leuten in den Arsch. Als wir das FBI-Gebäude verließen, verabschiedete man uns mit Handschlag und gratulierte uns dafür, wie gut wir unseren Job erledigt hatten – auch wenn sich das Lob nicht unbedingt in den Gesichtern der Gratulanten widerspiegelte. Vielleicht hatte es etwas mit der Art und Weise zu tun, wie ich Dantalion getötet hatte.
Nicht dass irgendjemand Jean-Paul St. Pierre eine Träne nachweinte, einem Psychopathen mit Anflügen von Größenwahn. Schon von Jugend an hatte er Menschen getötet. Er hatte seine Mutter, einen Onkel und einen Schulfreund ermordet, als er erst dreizehn war, und die nächsten acht Jahre in einem Hochsicherheitskrankenhaus verbracht. Mit einundzwanzig hatte man ihn wieder auf die nichtsahnende Welt losgelassen. Er hatte sich an einer Schauspielschule eingeschrieben und dort den Umgang mit Theaterschminke gelernt und wie man in fremde Rollen schlüpfte. Später hatte er sich zum Stuntman ausbilden lassen sowie Fahr-, Schieß- und Nahkampftrainings absolviert. Er hätte beim Film bleiben sollen. Seine Ausbildung taugte höchstens für diese Fantasiewelt, für das ernsthafte Leben eines Auftragskillers reichten seine Fähigkeiten keineswegs. Er hielt sich für einen Profi, aber das war er nicht. Er war einfach nur wahnsinnig. Aber genau das machte ihn so gefährlich.
Walter hielt sich nicht lange auf.
Er blieb gerade lange genug, um mich daran zu erinnern, dass seine Schulden bei mir nun getilgt waren.
»So etwas darf nie wieder passieren. Ich kann nicht noch einmal einen Mord gutheißen, Hunter.«
»So weit wird es nicht wieder kommen«, versprach ich ihm. Aber wir wussten beide, dass wir leere Versprechungen machten.
Mich verfolgt die Gewalt auf Schritt und Tritt wie der Gestank einen räudigen Hund.
Außerdem konnte man das, was ich mit Dantalion angestellt hatte, nicht als Mord bezeichnen. Dass ich einen Wahnsinnigen aufgehalten hatte, dem Dutzende Menschen zum Opfer gefallen waren, wog schwerer zu meinen Gunsten als die Tat »unter Drogeneinfluss« – es würde keine Anklage auf mich zukommen.
Rink nahm einen Flug vom Miami International Airport und jagte der untergehenden Sonne hinterher. Ich versprach, dass ich ihm in ein oder zwei Tagen nachfolgen würde, sobald ich hier
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