Das Bourne Imperium
von Menschen können über diesen Platz gehen, und doch wäre noch für weitere hunderttausende Raum. Und dennoch fehlt hier ein Element, das man in der blutigen Arena Roms nie vermisst hätte, geschweige denn in den großen Stadien der modernen Welt. Der Lärm fehlt – der Geräuschpegel liegt nur wenige Dezibel über der absoluten Stille, nur unterbrochen von leisem Fahrradgeklingel. Erst wirkt die Stille friedlich, dann bedrohlich. Sie ist unnatürlich, wie von einer unhörbaren Stimme befohlen, gegen die keiner aufbegehrt, der man sich fügt – und das ist beängstigend. Besonders, wenn sogar die Kinder still sind.
Jason nahm das alles schnell und ohne Anteilnahme in sich auf. Er bezahlte dem Fahrer, was der Taxameter anzeigte, und verlagerte seine Konzentration auf die Probleme, die ihn und d’Anjou jetzt erwarteten. Aus welchem Grund auch immer, ob ihn nun ein Telefonanruf erreicht hatte, oder ob er sich für Instruktionen entschieden hatte, die man ihm schon vorab erteilt hatte, jedenfalls war der Killer zum Tian-An-Men-Platz unterwegs. Die Pavane würde mit seiner Ankunft beginnen, die langsamen Schritte des vorsichtigen Tanzes würden den Killer näher und näher zum Vertreter seines Klienten tragen, wobei der Klient selbst sich nicht blicken lassen würde. Aber ein Kontakt würde erst dann hergestellt werden, wenn der falsche Bourne davon überzeugt war, dass das Rendezvous sauber war. Aus diesem Grunde würde der »Priester« die Zielposition selbst erforschen, die Koordinaten des Treffpunkts umkreisen und sich vergewissern, ob etwa bewaffnete Häscher ihm auflauerten. Er würde einen, vielleicht auch zwei in seine Gewalt bringen und sie zwingen, mit seiner Messerspitze, oder indem er ihnen eine schallgedämpfte Pistole in die Rippen drückte, ihm die Information zu liefern, die er
benötigte; ein einziger Blick würde ihm verraten, dass das Treffen ein Vorspiel zu seiner Exekution war. Am Ende schließlich, wenn ihm das Umfeld sauber vorkam, würde er einen seiner Gefangenen zum Vertreter seines Klienten schicken und sein Ultimatum stellen. Der Klient selbst musste sich zeigen und in das von dem Killer ausgespannte Netz gehen. Alles andere war nicht akzeptabel; die Zentralfigur, der Klient, musste das tödliche Gleichgewicht herstellen. Dann würde ein zweiter Treffpunkt vereinbart werden. Der Klient würde als Erster eintreffen und würde beim ersten Anzeichen von Verrat sterben. So wäre Jason Bourne vorgegangen. Und so würde auch der Killer vorgehen, wenn er auch nur einen Funken Verstand hatte.
Bus Nummer 7421 rollte ans Ende der Busschlange und spuckte die Touristen aus. Der Killer im Priestergewand stieg aus, war einer älteren Frau beim Aussteigen behilflich und strich ihr über den Kopf, als er ihr ein sanftes Lebewohl zunickte. Er drehte sich um, ging schnell um den Bus herum und verschwand dahinter.
»Bleiben Sie gute zehn Meter hinter mir und behalten Sie mich im Auge«, sagte Jason. »Tun Sie, was ich tue. Wenn ich anhalte, bleiben Sie auch stehen, wenn ich abbiege, biegen Sie ab. Bleiben Sie in der Menge; gehen Sie von einer Gruppe zur nächsten, aber vergewissern Sie sich, dass Sie immer von Leuten umgeben sind.«
»Seien Sie vorsichtig, Delta. Er ist kein Amateur.«
»Das bin ich auch nicht.« Bourne rannte zum Bus, blieb stehen und schob sich vorsichtig um den heißen, übel riechenden Auspuff des Heckmotors herum. Der Priester war etwa fünfzig Meter vor ihm, und seine schwarze Soutane wirkte in dem diffusen Licht wie ein dunkler Leuchtturm. Mit oder ohne Menschenmenge, es fiel nicht schwer, ihm zu folgen. Die Tarnung des Killers war akzeptabel, und die Art und Weise, wie er seine Rolle spielte, ebenfalls. Aber wie das bei einer Tarnung meistens der Fall ist, war sie zugleich auch auffällig, und dadurch ein Handicap. Solche Handicaps klein zu halten, war der Unterschied zwischen Spitze und gutem Durchschnitt. Der Profi in Jason billigte den Status des Geistlichen,
aber nicht das priesterliche Schwarz. Eine Priestersoutane war nun einmal schwarz, aber ein anglikanischer Pfarrer hätte auch einen grauen Anzug tragen können. Grau verschwamm im Sonnenlicht, Schwarz nicht.
Plötzlich löste sich der Killer aus der Menge und trat hinter einen chinesischen Soldaten, der Aufnahmen machte, die Kamera in Augenhöhe hielt und den Kopf dauernd bewegte. Bourne begriff. Das war kein harmloser Rekrut, der in Beijing Urlaub machte; dazu war er zu profiliert, seine Uniform zu gut
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