Das brave Mädchen und andere scharfe Stories
sollte sie eher das Michelin-Männchen darstellen? Gewaltige Brüste, ein dicker, hängender Bauch, Schenkel wie Baumstämme: Sah er sie so?
Heute vielleicht, aber damals war sie noch in den Zwanzigern gewesen – üppig und kurvenreich zwar, aber nicht furchtbar übergewichtig. Ihr barocker Körper hätte Rubens entzückt. Leider war dieses Aussehen Anfang der neunziger Jahre nicht in Mode gewesen. Jetzt, in den Dreißigern, waren ihre weiblichen Attribute ein wenig plumper geworden – und ihre Figur war immer noch nicht in Mode. Aber ihm schien sie ja trotzdem zu gefallen.
Sie erschauerte wegen der kühlen Luft, die durch das Fenster drang, aber auch wegen der köstlichen Erinnerung an seinen letzten Besuch. Es war so unerwartet und irreal gewesen – und doch irgendwie eine logische Folge von allem, was vorher passiert war.
Als er an die Tür klopfte, hatte sie gerade Griffe an Tassen montiert. Eine ganze Serie im Sechserpack. Sie verkauften sich gut. Wenn die Leute kein Geld für Schalen und Vasen, große Terracotta-Kübel oder ihre bizarreren Kreationen hatten, entschieden sie sich meist für Tassen. Besonders beliebt waren blaue Punkte auf weißem Untergrund – warum, wusste sie nicht. Sie gingen so gut, dass sie fast eine Massenproduktion starten konnte.
Mit tonverschmierten Händen hatte sie die Tür geöffnet. Sie hatte ihn nicht erkannt, auch nicht, als er sie angrinste und sagte: »Hallo, Sherry, erinnerst du dich noch an mich?«
Oh ja, die Stimme hatte vertraut geklungen, aber sie passte nicht zu den Daten, die sie in ihrem Gehirn gespeichert hatte. Kannte sie so jemanden? Einen jungen Mann, Anfang zwanzig, der sie frech anlächelte und so unverschämt gut aussah, dass sie es kaum wagte, ihn anzusehen. Vertraut waren auch seine Augen: blaugrau, wie gebrannter Ton. Die braunen Locken, die ihm immer noch in die Stirn fielen, waren mit Gel gebändigt, und die Seiten ganz kurz geschnitten. Der Ohrring war neu.
»Nat?«, fragte sie ungläubig.
»Ja«, lachte er. » Du hast dich nicht die Spur verändert!«
»Ach, komm!«, erwiderte sie und küsste ihn zur Begrüßung auf die Wange.
Er roch unvertraut maskulin und benutzte ein Aftershave, das sie noch nie an ihm gerochen hatte. Etwas Sportliches, Frisches. Ihre Lippen glitten über Bartstoppeln, die er beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte, noch nicht gehabt hatte. Er war größer, stärker, ganz anders und doch immer noch dieselbe Person.
»Mann, bist du groß geworden«, rief sie aus, kam sich jedoch sofort blöd vor, weil sie ihn behandelte wie ein Kind. Aber damals war er ja auch noch ein Kind gewesen, und sie hatte ihn auch immer so behandelt. Sie hatte sogar besonders darauf geachtet, weil sein jungenhafter Charme sie schon damals angezogen hatte – was umso gefährlicher gewesen war, da sie vermutet hatte, dass er auf seine stille Art in sie verliebt gewesen war. Schon damals hatte man ihm angesehen, was für ein Mann er einmal werden würde. Und er hatte sich weiß Gott toll entwickelt!
Wie selbstverständlich gingen sie in die Töpferei. Sherry schlug das Herz bis zum Hals, so sehr freute sie sich darauf, ihm zeigen zu können, was sie alles machte. Nat blickte auf die Klapptische, auf denen dunkelgraue Becher lagen, die gebrannt werden mussten.
»Becher«, sagte Sherry.
»Aha, da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen«, erwiderte Nat grinsend. Früher war ihr nie aufgefallen, wie weiß und gleichmäßig seine Zähne waren. Hatte sie ihn jemals so strahlend lächeln sehen?
Seine Selbstsicherheit brachte sie zum Erröten. Sie plapperte Unsinn, weil sie so aufgeregt war, und er war vollkommen ruhig und beherrscht. Er musste sie für eine Närrin halten.
Aber schließlich war er kein gewöhnlicher Besuch. Sein Gesicht weckte Erinnerungen aus der Vergangenheit und Hoffnungen für die Zukunft. Sie staunte darüber, wie er sich verändert hatte, wie erwachsen er in fünf oder sechs Jahren geworden war. War es tatsächlich schon so lange her?
Eifersucht stieg in ihr auf, weil sie nicht dabei gewesen war, aber andere Frauen es sicher miterlebt hatten. Sie wollte schrecklich gerne wissen, was er getan hatte und mit wem, wie eine solche Metamorphose zustande gekommen war.
Er war ein so schüchterner, zurückhaltender Junge gewesen, selbst mit knapp achtzehn noch; er hatte kaum etwas gesagt, wenn ihn nicht gerade eine Frage zum Töpfern bewegte. An jenem Tag, als er das Figürchen gebracht hatte, war er so verlegen und wortkarg gewesen.
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