Das brave Mädchen und andere scharfe Stories
Und jetzt war er kühn und offen, und sie war diejenige, die nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Erzähl doch mal, was du die ganze Zeit über so getrieben hast.« Sie versuchte, beiläufig zu klingen. »Du bist doch nicht wieder in die Stadt gezogen?«
»Nein«, sagte Nat. »Ich wollte nur rasch vorbeikommen und dich sehen, bevor ich nach Amerika fliege – ich wollte mich bei dir bedanken.«
»Amerika?«, fragte sie. Der Gedanke, ihn so schnell schon wieder zu verlieren, erschreckte sie.
»Ich habe ein Stipendium für ein Jahr in Boston bekommen.«
»Boston?«, stieß Sherry hervor. Wahrscheinlich erwartete er, dass sie sich für ihn freute und ihm gratulierte, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Ja, ich weiß, es ist nicht gerade der Mittelpunkt des künstlerischen Universums, aber ich habe die Chance, an einem Projekt mit führenden amerikanischen Keramikkünstlern mitzuarbeiten«, erwiderte er. Er sprach jetzt in längeren Sätzen, als in den gesamten drei Jahren, in denen er bei ihr Unterricht gehabt hatte.
»Großartig!«, sagte Sherry, aber es klang nicht sehr überzeugend.
»Ja«, erwiderte er ohne besonderen Enthusiasmus.
Verzweifelt suchte sie nach Worten. Sie musste die Situation retten, bevor sie zu peinlich wurde und er sich mit einem »War schön, dich wiederzusehen« verabschiedete und vermutlich bedauerte, sie überhaupt besucht zu haben.
Aber es war Nat, der das Schweigen brach. »Und was hast du so gemacht außer Bechern?«
»Ich? Ach, nichts Aufregendes.«
»Hast du immer noch Schüler?«
»Nein, du warst mein einziger.«
Nat errötete und wirkte auf einmal wieder so wie der Junge, den sie gekannt hatte.
»Hast du nicht geheiratet?«, fragte er plötzlich.
Sherry lachte, damit er ihr nicht anmerkte, wie verlegen sie war. »Vermutlich ist mir nie jemand begegnet, der mir gefiel. Ich habe die Nase immer nur auf die Töpferscheibe gesenkt und hatte Ton an der Stirn kleben. Aber das ist Schnee von gestern. Es sollte wohl nicht sein.« Gespielt heiter fügte sie hinzu: »Es war eben nie jemand an mir interessiert.«
»Ich schon«, sagte Nat und trat dicht an sie heran. Er blickte sie aus seinen grauen Augen aufmerksam an. »Du willst doch nicht behaupten, dass du es nicht gemerkt hättest.«
Nein, das konnte sie nicht. Aber was hätte es ihr denn gebracht? Sie hatte ihn damals genauso verzweifelt begehrt wie jetzt, aber sie hatte ihr Verlangen immer im Zaum gehalten, wegen des Altersunterschieds von zehn Jahren. Und jetzt glaubte sie nicht mehr, dass sie überhaupt noch im Rennen war. Er war viel zu attraktiv, um an ihr interessiert zu sein. Wahrscheinlich standen die Mädchen Schlange, um mit ihm auszugehen.
Nat blies ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sein Atem kitzelte auf ihrer Stirn, und sie bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Er roch nach einem guten Essen – Wein und Knoblauch, überlagert von der Pfefferminzfrische von Kaugummi.
Als sie sich kennen gelernt hatten, ging ihr jetzt durch den Kopf, hatte sie lange, kupferfarbene Locken gehabt, die ihr bis zum Po reichten. Wenn sie den Kopf zurückwarf, konnte sie darauf sitzen. Jetzt trug sie ihre Haare viel kürzer, aber ihre Locken waren immer noch üppig, und sie leuchteten wie verbranntes Gold.
Sie schloss die Augen und atmete seinen Duft ein, versuchte, ihn sich auf diesem Weg einzuprägen, bevor er wieder ging. An der Wärme, die sein Körper ausstrahlte, merkte sie, wie dicht sie beieinanderstanden. Und dann fasste er mit der Hand in ihre dicken Locken, zog ihren Kopf zu sich heran und küsste sie mit einer Glut, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Und sie hätte sie dem Jungen auch nicht zugetraut. Aber er war kein Junge mehr, er war schon längst ein Mann. Es war an der Zeit, dass Sherry die Erinnerungen losließ und in der Gegenwart lebte.
»Das wollte ich immer schon tun«, sagte Nat. »Du bist doch nicht böse, oder?«
»Nein«, erwiderte sie. »Ich wollte es auch immer.«
Ein Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus. Wahrscheinlich erriet er, was sie heimlich von ihm gewollt hatte.
Sie spürte, wie die Hitze in ihr aufstieg, ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie zitterte am ganzen Leib. Noch nie zuvor hatte er ihr so lange in die Augen geblickt, und fast konnte sie seinen Blick nicht erwidern, so intensiv war das Gefühl, das seine rauchgrauen Augen in ihr erweckten.
»Die Mädchen auf dem College waren alle so dünn«, sagte er. »Keine einzige hatte einen Körper, der auch nur im
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