Das Buch Der 1000 Wunder
Monumente das Simplonmassiv hoch emporwölbt.
15. Die Jungfraubahn
Am 1. April 1886 veröffentlichte der Redakteur der »Neuen Zürcher Zeitung«, Emil Frey, in seinem Blatt einen damals viel belachten Aprilscherz. Er enthielt die Mitteilung, daß eine englische Gesellschaft die Anlegung eines für Fußgänger und Pferde gangbaren Wegs auf die Jungfrau plane, sowie außerdem den Bau einer elektrischen Bahn nach der nahe dem Gipfel liegenden Rottalhütte beabsichtige. Die letzten 1400 Meter werde man auf einer in den Felsen gesprengten Galerietreppe emporsteigen können, und sich dann auf dem abgeplatteten Gipfel befinden, der, mit einem Geländer umgeben, die herrlichste Aussicht unter Ausschluß aller Gefahren gestatten würde. Des Nachts werde man sich an dem zauberhaften Licht eines mächtigen Scheinwerfers ergötzen können, dessen Lichtkegel bis nach Deutschland hineinreichen würde.
Es war keiner in der Schweiz sehr stolz auf seine Klugheit, wenn er diese überquellende Phantasie als das erkannt hatte, was sie war, eben als einen Scherz. Aber schon drei Jahre später gingen dem schweizerischen Bundesrat drei höchst ernsthafte Gesuche um Genehmigung einer Bahn auf die Jungfrau zu. Der eine dieser Pläne stammte von dem Ingenieur Locher, dem Erbauer der Bahn auf den Pilatus; es war darin die Absicht ausgesprochen, Wagen, welche die Form von Kolben haben sollten, in zwei Röhren mittels Druckluft hinauf- und hinabzubefördern.
Keines dieser Projekte ist Wirklichkeit geworden. Es bedurfte erst des genialen Gedankens eines mit künstlerischem Blick begabten Manns, um die richtige Bahnlage herauszufinden. Nach den ersten Plänen stieg die Bahn stets geradenwegs auf den Berg hinauf, sodaß sich von allen Punkten aus immer das gleiche Landschaftsbild den Augen geboten hätte, nur mit zunehmender Höhenlage sich immer weiter ausbreitend. Der Schweizer Industrielle Guyer-Zeller erkannte, daß man nicht nur auf das Ziel, sondern auch auf den Weg zu achten habe: damit die Bahn rentabel werden könnte, mußte sie viele wechselnde Bilder erschließen.
21 Der Gedanke, wie das gemacht werden könne, kam ihm als echter Genieblitz plötzlich wie eine Vision. Am 27. August 1893 bestieg er mit seiner Tochter von Murren aus den Gipfel des Schilthorns, von dem man eine prächtige Aussicht auf das zusammenhängende Bergmassiv Eiger-Mönch-Jungfrau hat. Guyer war die ganze Zeit über sichtlich mit einem Gedanken beschäftigt; beim Abstieg blieb er plötzlich stehen und rief: »Nun habe ich's gefunden!« Noch in derselben Nacht fertigte er trotz der Müdigkeit, welche die schwere Bergtour dem mehr als fünfzigjährigen Mann verursacht haben mußte, eine Zeichnung an, die den ihm vorschwebenden Lageplan der Jungfraubahn darstellte.
Die Zeichnung trägt den Vermerk: »11–1½ Uhr nachts, Zimmer Nr. 42, Kurhaus, 27.–28. August 1893. G.-Z.« Die genaue Datierung verrät, daß Guyer sich der Tragweite seines Gedankens voll bewußt war. Und wirklich ist die Bahn genau so gebaut worden, wie er ihre Lage damals vorgezeichnet hat; selbst nach seinem Tod wurde nichts Wesentliches daran geändert.
Die Strecke steigt jetzt erst nach weitem Umweg durch Eiger und Mönch zur Jungfrau hinauf. Dadurch wird bewirkt, daß jede Haltestelle einen ganz neuen und überraschenden Blick eröffnet, daß die Aussicht in angenehmer Steigerung stets an Großartigkeit zunimmt.
Am 19. September 1898 wurde die erste Station »Eigergletscher« eingeweiht. Erst vier Jahre nach Guyer-Zellers Tod war die nächste Haltestelle »Eigerwand« erreicht. 1905 folgte die Station »Eismeer« und 1912 war das Jungfraujoch erstiegen. Hier liegt nun die höchste Gebirgsbahnstation der Erde, wenn das vorläufige Ende der Jungfraubahn auch nicht der höchste von einer Eisenbahn erreichte Punkt ist. Denn die Callao-Lima-Oroya-Bahn in Peru überschreitet die Paßhöhe der Anden bei 4778 Metern, was fast der Gipfelhöhe des Mont Blanc entspricht. Aber in jener Gegend liegt die Schneeregion sehr viel tiefer als in den Alpen.
Das Wunderbare ist durch die Jungfraubahn ermöglicht: ohne Anstrengung, ohne Gefahr kann Jeder des unvergleichlich herrlichen Anblicks der Gletscherwelt dort oben teilhaftig werden, während früher diese Gnade nur wenigen, körperlich besonders Tauglichen zuteil wurde. Tausende können sich jetzt in jedem Jahr an den großartigsten Werken der Natur ergötzen, die bis dahin viel zu wenig Augen beglückt hatten. Man spreche nicht von Entweihung! Der
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