Nelson sucht das Glück
Erster Teil
Die große Liebe
1
Das Erste, was Nelson roch, war Gras. Herrliches, saftiges, geheimnisvolles Gras. Der Geruch wehte von den Weiden rund um Mrs Andersons Bauernhof herüber, wo Nelson und seine Geschwister als wuselndes Knäuel bei ihrer Mutter lagen. Seine kleine Schnauze kräuselte sich, angeregt durch diesen starken Reiz. Im Bauch seiner Mutter, als sein Geruchssinn noch nicht so ausgeprägt gewesen war, hatte er den Geruch aus der Ferne wahrgenommen, doch als ihn jetzt, draußen in der Welt, der intensive Duft des Grases traf, war er unheimlich und berauschend. Ein Mysterium.
Der Geruch hatte viele Schichten. Später, als er älter wurde, würde Nelson lernen, die Bedeutung dieser vielen Duftschichten zu erkennen und zu unterscheiden. In ihnen steckte das Wissen über den Tag – welche anderen Tiere vorbeigekommen waren und ihre Duftmarke hinterlassen hatten, wie viel Tau es an diesem Morgen gegeben hatte, und was es mit den fernen Wiesen auf sich hatte, von denen dieser Duft des Taus gekommen war. In dem Grasduft lag das Wissen über den Regen, der zwei Tage zuvor gefallen war, und über die Ameisen und anderen Insekten, die im Gras lebten. Doch manchmal entströmte diesem Duft auch noch eine Erinnerung an die Erde, in der das Gras gewachsen war, an vergangene Sommer und längst vergessene Winter, an all die Lebewesen, die in New Hampshire, wo Nelson geboren war, gelebt hatten und gestorben waren. Darin steckte die Geschichte all der Wurzeln und der Gebeine, die seit Jahrhunderten in dieser saftigen Erde lagen.
Nelson gehörte zu einem Wurf von sechs Mischlingen. Genauer gesagt, waren die Mischlinge nicht geplant gewesen. Mrs Anderson züchtete schon seit vielen Jahren Beagles und Pudel. Ihre Welpen brachten jeweils tausend Dollar ein und wurden in ganz Amerika verkauft. Nelsons Mutter Lola, ein sanfter, aprikosenfarbener Zwergpudel, hatte bereits mehrfach geworfen. Sein Vater King, ein bei der alljährlichen Landwirtschaftsmesse vielfach preisgekrönter und oftmals fotografierter Beagle, hätte gar nicht zu Lola ins Gehege gedurft, als sie zwei Monate vorher läufig gewesen war. Mehrfach hatte er Nougat, eine Beaglehündin, gedeckt, und Mrs Anderson liebte ihn über alles. Lola hingegen hatte eigentlich mit ihrem üblichen Deckrüden Kennedy, einem dunkelbraunen Pudel von guter Wesensart, gepaart werden sollen. Mrs Anderson konnte nicht ahnen, dass King von Lolas duftendem Hinterteil angelockt worden war, dessen Bouquet schon im vergangenen Frühjahr aus ihrem Zwinger zu ihm herübergeweht war. Als er ein winziges Loch unter dem Holzzaun bemerkte, der Lolas Zwinger umgab, hatte King wie wild mit dem Buddeln begonnen, wenn Mrs Anderson gerade nicht in der Nähe war, und sich schließlich mit Lola gepaart. Mrs Anderson hatte keinen Verdacht geschöpft, bis eines Tages Lola ihre Welpen zur Welt gebracht hatte, eine Handvoll kleiner Hunde, die anders aussahen als alle Hunde, die Mrs Anderson bis dahin gezüchtet hatte. Einen Moment lang war sie wütend gewesen, als ihr klar wurde, was King getan hatte. Und sie bedauerte es auch, als sie begriff, dass es diesmal nichts mit den Tausenden von Dollar werden würde, die sie normalerweise für einen reinrassigen Wurf von Pudeln einstrich. Doch als sie dann Nelsons ältere Schwester in die Hand nahm und den Herzschlag des kleinen Hundes spürte, schmolz sie dahin wie Butter in der Sonne, und sie wusste, dass sie diese Welpen in den ersten beiden Monaten ihres Lebens mit ebenso viel Liebe aufziehen würde, wie sie es bei reinrassigen Hunden tat.
Bei einem Wurf junger Pudel war Mrs Anderson bestenfalls auf zwei oder drei Junge gefasst, doch dieses Mal schenkte Lola sechs Welpen das Leben. Vielleicht hatte ja Kings beharrliches Liebesspiel mit Lola zu dieser Abweichung von der Regel geführt, denn der Duft der läufigen Lola war so betörend gewesen, dass King jedes Mal, wenn er dachte, mit seinen Kräften am Ende zu sein, neue Energien in seinen Lenden verspürte.
Auch Lola selbst war über die sechs Welpen überrascht, die sie trotz ihres schmalen Körperbaus zur Welt gebracht hatte. Es machte sie traurig, als sie Nummer vier reglos daliegen sah, nachdem er aus dem Geburtskanal geschlüpft war. Kaum hatte sie die kleine Hülle der Nachgeburt verspeist, die dem kleinen Rüden im Mutterleib als Schutz gedient hatte, leckte sie ihn wieder und wieder ab und versuchte, ihn ins Leben zurückzuholen. Mrs Anderson, die der Geburt zuschaute, betete darum, dass
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