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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nie in den Sinn gekommen zu behaupten, dass Hector Mann noch am Leben sei. Tote erheben sich nicht aus ihren Gräbern, und wie ich es sah, konnte sich nur ein Toter so lange versteckt gehalten haben.
    Vergangenen März war es elf Jahre her, dass das Buch bei der University of Pennsylvania Press erschien. Drei Monate später, kurz nachdem Filmzeitschriften und Fachjournale die ersten Rezensionen gebracht hatten, fand ich einen Brief im Briefkasten. Der Umschlag war größer und hatte ein anderes Format als die, die man gewöhnlich zu kaufen bekommt, und da er aus dickem, teurem Papier war, kam ich zunächst auf den Gedanken, es könne sich nur um eine Hochzeits- oder Geburtsanzeige handeln. Mein Name und meine Adresse standen in eleganter, schwungvoller Handschrift auf der Vorderseite. Falls die Schrift nicht von einem professionellen Kalligraphen stammte, dann zweifellos von jemandem, der großen Wert auf eine gefällige Erscheinung legte, von einem Menschen, der die alte Schule der Etikette und des gesellschaftlichen Anstands durchlaufen hatte. Die Briefmarke war in Albuquerque, New Mexico, gestempelt, aber aus der Adresse des Absenders auf der Rückseite konnte man schließen, dass der Brief anderswo geschrieben worden sein musste - vorausgesetzt, es gab einen solchen Ort überhaupt, und weiter vorausgesetzt, es gab eine Stadt solchen Namens. Die zwei Zeilen lauteten: Blue Stone Ranch; Tierra del Sueño, New Mexico. Vielleicht habe ich gelächelt, als ich das las, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ein Name war nicht angegeben, und als ich den Umschlag aufriss, um den Text auf der Karte darin zu lesen, wehte mir ein feiner Hauch von Parfüm entgegen, ein kaum noch spürbarer Duft von Lavendelwasser.
    Sehr geehrter Professor Zimmer, begann das Schreiben. Hector hat Ihr Buch gelesen und würde Sie gern kennen lernen. Haben Sie Interesse, ihn zu besuchen? Hochachtungsvoll, Frieda Spelling (Mrs. Hector Mann).
    Ich las das sechs- oder siebenmal. Dann legte ich das Blatt beiseite, ging ans andere Ende des Zimmers und wieder zurück. Als ich den Brief wieder aufnahm, war ich mir nicht sicher, ob die Worte immer noch dastanden. Oder, falls ja, ob es noch dieselben Worte waren. Ich las die Zeilen weitere sechs- oder siebenmal, und da ich immer noch nicht schlau daraus wurde, tat ich den Brief erst einmal als Streich ab. Aber sogleich befielen mich Zweifel, und dann wiederum befielen mich Zweifel an meinen Zweifeln. Jeder Gedanke rief einen gegenteiligen Gedanken hervor, und kaum hatte dieser zweite den ersten verdrängt, erhob sich ein dritter und verdrängte den zweiten. Da mir nichts Besseres einfiel, stieg ich ins Auto und fuhr zur Post. Im Postleitzahlenverzeichnis stand jede einzelne Adresse der USA, und wenn Tierra del Sueño dort nicht zu finden war, konnte ich die Karte wegschmeißen und die Angelegenheit vergessen. Aber es war dort zu finden. Es stand in Band l, Seite 1933, zwischen Tierra Amarilla und Tijeras, ein richtiger Ort mit Postamt und eigener fünfstelliger Postleitzahl. Das allein verifizierte den Brief natürlich nicht, verhalf ihm aber immerhin zu einiger Glaubwürdigkeit, und als ich wieder nach Hause kam, war mir klar, dass ich eine Antwort schreiben musste. Einen solchen Brief kann man nicht einfach ignorieren. Hat man ihn erst einmal gelesen, weiß man, dass man sich die Mühe machen und ihn beantworten muss, weil er einen sonst bis ans Lebensende verfolgen wird.
    Ich besitze keine Abschrift meiner Antwort, weiß aber noch, dass ich sie mit der Hand geschrieben und mich bemüht habe, sie so kurz wie möglich zu halten, mich auf wenige Sätze zu beschränken. Ohne viel nachzudenken, übernahm ich den kategorischen, kryptischen Stil des Briefes, den ich bekommen hatte. Auf diese Weise fühlte ich mich geschützter, als könnte derjenige, der sich diesen Streich ausgedacht hatte - falls es denn ein Streich war -, mich dann nicht so ohne Weiteres für einen Einfaltspinsel halten. Von der einen oder anderen Formulierung abgesehen, lautete meine Antwort etwa so: Sehr geehrte Frieda Spelling. Selbstverständlich würde ich Hector Mann gern kennenlernen. Aber woher soll ich wissen, dass er noch lebt? Soweit ich weiß, ist er seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen worden. Ich bitte um nähere Einzelheiten. Mit freundlichen Grüßen, David Zimmer.
    Ich nehme an, wir alle möchten gern an Unmögliches glauben, uns einreden, dass Wunder wirklich geschehen können. Wenn man bedenkt, dass

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