Das Buch der Illusionen
kräftiger als er, und indem sie sein Leben um ein paar Tage abkürzte, befreite sie ihn von der Torheit, mich auf die Ranch eingeladen zu haben. Nach Jahren standhaften Muts hatte Hector seinen Zweifeln und Bedenken nachgegeben, hatte plötzlich alles infrage gestellt, was er mit seinem Leben in New Mexico angefangen hatte, aber erst durch mein Eintreffen in Tierra del Sueño brach seine schöne Zweisam-keit mit Frieda auseinander. Der Wahnsinn fing erst an, als ich auf die Ranch kam. Ich war der Katalysator für alles, was dort während meiner Anwesenheit geschah, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Frieda musste mich loswerden, und das war nur auf eine Weise möglich: Sie musste Hector loswerden.
Ich denke oft daran, wie es am nächsten Tag weiterging. So vieles davon dreht sich um Dinge, die nie ausgesprochen wurden, um kleine Pausen und Auslassungen, um die eigenartige Passivität, die Alma in gewissen kritischen Augenblicken auszustrahlen schien. Als ich am Morgen erwachte, saß sie neben mir auf dem Bett und streichelte mein Gesicht. Es war zehn Uhr - weit über die Zeit hinaus; wir hätten schon längst im Vorführraum sein und uns Hectors Filme ansehen sollen - , und doch trieb sie mich nicht zur Eile an. Ich trank den Kaffee, den sie mir auf den Nachttisch gestellt hatte, wir unterhielten uns, wir nahmen uns in die Arme und küssten uns. Später, als sie nach der Vernichtung der Filme ins Haus zurückkam, wirkte sie relativ unbeeindruckt von der Szene, deren Zeuge sie soeben gewesen war. Ich verkenne nicht, dass sie in Tränen ausbrach, aber ihre Reaktion war weit weniger heftig, als ich mir vorgestellt hatte. Sie schrie nicht, sie tobte nicht, sie fluchte nicht, weil Frieda das Feuer früher angezündet hatte, als sie es nach Hectors Testament hätte tun müssen. Wir hatten in den vergangenen zwei Tagen viel miteinander geredet, und daher wusste ich, dass Alma dagegen war, die Filme zu verbrennen. Die Größe von Hectors Verzicht nötigte ihr gewaltigen Respekt ab, dennoch hielt sie es für einen Fehler und sagte mir, sie habe in den letzten Jahren oft mit ihm deswegen gestritten. Wenn dem so war: Warum hat sie sich dann nicht mehr aufgeregt, als die Filme schließlich doch vernichtet wurden? Ihre Mutter war in diesen Filmen zu sehen, ihr Vater hatte diese Filme gedreht, und doch verlor sie kaum ein Wort darüber, als das Feuer ausgegangen war. Ich habe jahrelang über ihr Schweigen nachgedacht, und die einzige sinnvolle Theorie, die ihre Gleichgültigkeit an jenem Abend vollständig erklärt, scheint mir zu sein, dass sie wusste, dass die Filme nicht vernichtet worden waren. Alma war eine ungemein kluge und phantasievolle Frau. Sie hatte bereits Kopien von Hectors früheren Filmen angefertigt und an ein halbes Dutzend Archive rund um den Globus verschickt. Warum sollte sie nicht auch Kopien von seinen späteren Filmen gemacht haben? Sie war bei der Arbeit an ihrem Buch sehr viel gereist. Was hätte sie gehindert, jedes Mal wenn sie die Ranch verließ, ein paar Negative herauszuschmuggeln und in irgendeinem Labor neue Kopien davon herzustellen zu lassen? Der Tresor war unbewacht, sie hatte Schlüssel zu allen Türen, und sie hätte keinerlei Schwierigkeiten gehabt, das Material unbemerkt hinaus- und wieder hineinzubringen. Und wenn sie das getan hatte, dann hätte sie die Kopien irgendwo versteckt und nach Friedas Tod veröffentlicht. Das hätte vielleicht noch Jahre gedauert, aber Alma war geduldig, und sie konnte nicht gewusst haben, dass ihr Leben gleichzeitig mit dem Friedas enden würde. Man könnte einwenden, dass sie mich ins Vertrauen gezogen haben würde, dass sie ein solches Geheimnis nicht für sich behalten hätte; aber vielleicht hatte sie vor, mir alles zu erzählen, wenn sie zu mir nach Vermont gekommen wäre. In ihrem langen, zusammenhanglosen Abschiedsbrief sagte sie von den Filmen kein Wort, aber in dieser Nacht war sie in einem Zustand äußerster Qual; sie zitterte in einem Albtraum aus Panik und apokalyptischen Selbstvorwürfen, und ich nehme an, sie war gar nicht mehr ganz auf dieser Welt, als sie sich hinsetzte, um mir diesen Brief zu schreiben. Sie hat vergessen, es mir zu sagen. Sie hat es mir sagen wollen, es dann aber vergessen. Wenn das stimmt, sind Hectors Filme nicht verloren. Sie sind nur verschwunden, und früher oder später wird jemand kommen und zufällig die Tür des Zimmers aufstoßen, in dem Alma sie versteckt hat, und dann fängt die Geschichte noch
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