Das Buch der Illusionen
aber an diesem Abend war mir ein Vorschlag gemacht worden, und zwei Minuten Film und ein einziges kurzes Lachen brachten mich zu dem Entschluss, um die Welt zu ziehen und mir Stummfilmkomödien anzusehen.
Ich war kein Filmkenner. Mit Mitte zwanzig, nach Abschluss meines Studiums, hatte ich als Literaturdozent angefangen, und seitdem hatte meine Arbeit ausschließlich mit Büchern zu tun gehabt, mit Sprache und dem geschriebenen Wort. Ich hatte eine Reihe europäischer Dichter übersetzt (Lorca, Eluard, Leopardi, Michaux), Rezensionen für Zeitschriften und Zeitungen verfasst und zwei Bücher über Literaturkritik veröffentlicht. Das erste, Stimmen aus dem Kriegsgebiet, beschäftigte sich mit den Zusammenhängen von Politik und Literatur und untersuchte das Werk von Hamsun, Céline und Pound mit Blick auf ihre profaschistischen Aktivitäten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Das zweite, Der Weg nach Abessinien, handelte von Schriftstellern, die das Schreiben aufgegeben hatten: eine Meditation über das Schweigen. Rimbaud, Dashiell Hammett, Laura Riding, J. D. Salinger und andere - Dichter und Romanciers von außerordentlichem Talent, die aus irgendwelchen Gründen plötzlich aufgehört hatten. Als Helen und die Jungen ums Leben kamen, hatte ich gerade ein neues Buch in Planung, in dem es um Stendhal gehen sollte. Nicht dass ich irgendetwas gegen das Kino gehabt hätte -es bedeutete mir nur nicht sehr viel, und nicht ein einziges Mal in über fünfzehn Jahren Lehr- und Schreibtätigkeit war es mir in den Sinn gekommen, mich darüber zu äußern. Ich mochte Filme wie jeder andere - als Zerstreuung, als belebte Tapete, als leichte Kost. Ganz gleich, wie schön oder hypnotisierend die Bilder gelegentlich sein mochten, sie befriedigten mich niemals so sehr wie das geschriebene Wort. Für mein Empfinden zeigten Filme zu viel, ließen der Phantasie des Betrachters zu wenig Spielraum; dazu kam der paradoxe Eindruck, dass Filme die Welt - die Welt in uns und außer uns - desto schlechter repräsentierten, je genauer sie die Wirklichkeit nachahmten. Das war auch der Grund, warum mir Schwarz-Weiß-Filme instinktiv immer lieber gewesen waren als Farbfilme, Stummfilme lieber als Tonfilme. Das Kino war eine optische Sprache, eine Methode, Geschichten zu erzählen, indem man Bilder auf eine zweidimensionale Leinwand projizierte. Der Zusatz von Ton und Farbe hatte die Illusion einer dritten Dimension erzeugt, den Bildern aber zugleich ihre Reinheit genommen. Jetzt brauchten sie nicht mehr die ganze Arbeit alleine zu leisten, aber statt den Film zur perfekten Mischform zu machen, zur besten aller möglichen Welten, hatten Ton und Farbe eben die Sprache geschwächt, die sie eigentlich verstärken sollten. Als ich an diesem Abend in Vermont in meinem Wohnzimmer saß und Hector und die anderen Komiker ihre Kunststücke machen sah, kam mir der Gedanke, dass ich eine untergegangene Kunstform beobachtete, ein völlig ausgestorbenes Genre, das niemals mehr ausgeübt werden würde. Und dennoch, trotz aller Veränderungen, die sich seither ergeben hatten, waren diese Werke so frisch und belebend wie damals, als sie zum ersten Mal gezeigt worden waren. Grund dafür war, dass sie die Sprache beherrschten, die sie da sprachen. Sie hatten eine Syntax des Auges, eine Grammatik der reinen Bewegung erfunden, und wenn man einmal von den Kostümen, den Autos und den kuriosen Möbeln im Hintergrund absah, konnte nichts von alldem wirklich alt werden. Hier wurden Gedanken in Handlung umgesetzt, hier drückte sich der menschliche Wille durch den menschlichen Körper aus, und dies war etwas, das zu jeder Zeit Gültigkeit besaß. Die meisten Stummfilmkomödien machten sich kaum die Mühe, eine Geschichte zu erzählen. Eher glichen sie Gedichten, nachgestellten Traumszenen, komplexen Choreografien des Geistes; und da sie längst überholt waren, sprachen sie uns Heutige wahrscheinlich sogar noch intensiver an als das Publikum ihrer Zeit. Wir sahen sie über einen breiten Abgrund des Vergessens hinweg, und die Dinge, die uns von ihnen trennten, waren in Wirklichkeit genau die, die sie für uns so fesselnd machten: ihr Stummsein, ihre Farblosigkeit, ihr ruckhafter, beschleunigter Rhythmus. All das waren Hindernisse, die uns das Sehen erschwerten; andererseits befreite es die Bilder von der Last, etwas darstellen zu müssen. Es stand zwischen uns und dem Film, und daher brauchten wir nicht mehr so zu tun, als ob wir die reale Welt betrachteten. Die flache
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