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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ich der Verfasser des einzigen Buches war, das jemals über Hector Mann geschrieben wurde, schien es nicht unwahrscheinlich, dass irgendjemand auf die Idee gekommen sein könnte, ich würde mich auf die Chance stürzen und tatsächlich glauben, dass er noch lebte. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich auf irgendetwas zu stürzen. Zumindest dachte ich das. Mein Buch war aus einem Zustand großer Trauer heraus entstanden; das Buch lag nun hinter mir, aber die Trauer war immer noch da. Über Filmkomödien zu schreiben war nicht mehr als ein Vorwand gewesen, eine absonderliche Medizin, die ich über ein Jahr lang täglich zu mir genommen hatte, in der vagen Hoffnung, dass sie den Schmerz in meinem Innern betäuben möge. Und das tat sie auch bis zu einem gewissen Grade. Frieda Spelling (oder wer auch immer sich als Frieda Spelling ausgab) konnte das freilich nicht gewusst haben. Sie konnte nicht gewusst haben, dass meine Frau und meine beiden Söhne am 7. Juni 1985, nur eine Woche vor unserem zehnten Hochzeitstag, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Vielleicht hatte sie gesehen, dass mein Buch ihnen gewidmet war (Zum Gedenken an Helen, Todd und Marco) , aber diese Namen konnten ihr nichts gesagt haben, und selbst wenn sie deren Bedeutung für den Autor geahnt hätte, konnte sie nicht gewusst haben, dass diese Namen ihm alles bedeuteten, was seinem Leben irgendeinen Sinn verliehen hatte - und dass, als Helen mit sechsunddreißig, Todd mit sieben und Marco mit vier Jahren umgekommen waren, ein großer Teil von ihm mit ihnen gestorben war.
    Sie waren auf dem Weg nach Milwaukee gewesen, um Helens Eltern zu besuchen. Ich war in Vermont geblieben, um Aufsätze zu korrigieren und die Abschlussnoten für das eben zu Ende gegangene Semester abzuliefern. Das war meine Arbeit - Professor für vergleichende Literaturwissenschaft am Hampton College in Hampton, Vermont -, und daran kam ich nicht vorbei. Normalerweise wären wir am vierundzwanzigsten oder fünfundzwanzigsten alle zusammen geflogen, aber Helens Vater hatte gerade eine Tumoroperation am Bein hinter sich, und der Familienrat hatte beschlossen, dass sie und die Jungen ihn so bald wie möglich besuchen sollten. Das machte ebenso hektische wie komplizierte Verhandlungen mit Todds Schule erforderlich, da wir deren Einverständnis brauchten, dass er die letzten zwei Wochen des zweiten Schuljahrs verpassen durfte. Die Rektorin zögerte zunächst, war aber dann so verständnisvoll, dass sie schließlich nachgab. Auch dies zählte zu den Dingen, über die ich nach dem Unglück ständig nachdenken musste. Hätte sie unseren Wunsch abgelehnt, hätte Todd zwangsläufig bei mir zu Hause bleiben müssen und wäre nicht gestorben. Dann wäre wenigstens einer von ihnen verschont geblieben. Wenigstens einer von ihnen wäre nicht elf Kilometer tief vom Himmel gestürzt, und ich wäre nicht allein in einem Haus zurückgeblieben, in dem eigentlich vier Menschen wohnen sollten. Es gab natürlich auch anderes, andere mögliche Szenarios, über die ich nachgrübelte, mit denen ich mich quälte, und es schien, als wollte ich es niemals müde werden, mich immer wieder in diesen Sackgassen zu verrennen. Alles war miteinander verzahnt, jedes Glied in der Kette von Ursache und Wirkung war ein wesentlicher Teil dieser entsetzlichen Geschichte - vom Krebsgeschwür im Bein meines Schwiegervaters bis zum Wetter in Milwaukee in jener Woche und der Telefonnummer der Reiseagentur, bei der wir die Flugtickets gebucht hatten. Das Schlimmste war, dass ich darauf bestanden hatte, sie selbst nach Boston zu fahren, damit sie einen Direktflug nehmen konnten. Ich hatte nicht gewollt, dass sie von Burlington abflogen. Denn dann hätten sie erst mit einer achtzehnsitzigen Propellermaschine nach New York fliegen müssen, um dort den Anschlussflug nach Milwaukee zu nehmen, und ich hatte noch zu Helen gesagt, diese kleinen Maschinen gefielen mir nicht. Die seien zu gefährlich, sagte ich, ich könne die Vorstellung nicht ertragen, sie und die Jungen ohne mich mit so etwas fliegen zu lassen. Also ließen sie es sein - um mich zu beschwichtigen. Sie nahmen ein größeres Flugzeug, und das Schreckliche daran war, dass ich selbst sie in aller Eile dorthin brachte. An jenem Morgen herrschte starker Verkehr, und als wir endlich nach Springfield kamen und den Mass Pike runterfuhren, musste ich das Tempolimit schon sehr überschreiten, um noch rechtzeitig am Logan Airport anzukommen.
    Was in diesem Sommer

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