Das Buch der Illusionen
guten Meinung von sich selbst beirren ließ. Es war vielleicht nicht die erstaunlichste Slapstickszene, die ich je gesehen hatte, aber sie zog mich doch so an, dass ich mich vollkommen hineinversenkte, und beim zweiten oder dritten Zucken von Hectors Schnurrbart war es so weit: Ich lachte, ich lachte tatsächlich laut auf.
Ein Sprecher kommentierte das Geschehen, aber da mich die Bilder so sehr fesselten, bekam ich nicht alles mit, was er sagte. Ich glaube, es ging um Hectors geheimnisvollen Rückzug aus dem Filmgeschäft und darum, dass man ihn für den letzten großen Komiker des Kurzfilms hielt. Die erfolgreicheren und innovativeren Komiker hätten sich in den zwanziger Jahren längst auf abendfüllende Filme verlegt, mit der Folge, dass die Qualität des Kurzfilms drastisch gesunken sei. Hector Mann habe dem Genre nichts Neues hinzugefügt, erklärte der Sprecher, doch sei er als talentierter Komiker mit außergewöhnlicher Körperbeherrschung anerkannt, ein bemerkenswerter Nachzügler, von dem man sicher noch Bedeutendes hätte erwarten können, wäre seine Karriere nicht so abrupt zu Ende gegangen. An dieser Stelle brach die Szene ab, und ich konzentrierte mich ganz auf die Ausführungen des Sprechers. Während Dutzende Fotos von Komikstars über den Bildschirm zogen, beklagte die Stimme den Verlust so vieler Filme aus der Stummfilmzeit. Nach Aufkommen des Tonfilms habe man die Stummfilme in den Archiven verrotten lassen, sie seien bei Bränden vernichtet und als Müll weggeworfen worden, und so seien Hunderte dieser Streifen für immer verschwunden. Aber die Hoffnung sei noch nicht ganz erloschen, fügte die Stimme hinzu. Gelegentlich tauchten alte Filme wieder auf, in den letzten Jahren habe man eine Reihe beachtlicher Funde gemacht. Man denke nur an Hector Mann, sagte der Sprecher. Bis 1981 seien weltweit nur drei seiner Filme bekannt gewesen. Spuren und Fragmente der anderen neun fänden sich in diversem Sekundärmaterial - in Presseberichten, Standfotos, Vorschauen -, aber die Filme selbst habe man für verloren gehalten. Dann aber sei im Dezember dieses Jahres im Büro der Cinémathèque Française in Paris ein anonymes Päckchen eingetroffen. Allem Anschein nach in Los Angeles aufgegeben, enthielt es eine nahezu makellose Kopie von Hampelmänner, dem siebten von Hector Manns zwölf Filmen. Im Lauf der nächsten drei Jahre bekamen größere Filmarchive auf der ganzen Welt acht ähnliche Päckchen: das Museum of Modern Art in New York, das British Film Institute in London, das Eastman House in Rochester, das American Film Institute in Washington, das Pacific Film Archive in Berkeley, und schließlich noch einmal die Cinémathèque in Paris. 1984 war Hector Manns Gesamtwerk auf diese sechs Organisationen verstreut, aber komplett zugänglich. Jedes Päckchen war in einer anderen Stadt abgeschickt worden, in so entfernt voneinander liegenden Orten wie Cleveland und San Diego, Philadelphia und Austin, New Orleans und Seattle, und da den Filmen niemals irgendein erklärendes Schreiben beigelegt war, war es unmöglich, den Stifter zu identifizieren oder auch nur eine Hypothese über ihn oder seinen Wohnort aufzustellen. Dem Leben und der Karriere des rätselhaften Hector Mann sei ein weiteres Geheimnis hinzugefügt worden, sagte der Sprecher; dennoch seien die so aufgetauchten Filme unschätzbar, und die Gemeinde der Filmfreunde könne nur dankbar sein.
Ich hatte kein Interesse an Rätseln und Geheimnissen, aber als ich den Nachspann der Sendung ablaufen sah, ging mir durch den Kopf, dass ich diese Filme gern mal sehen würde. Insgesamt waren es zwölf, verstreut auf sechs verschiedene Städte in Europa und den Vereinigten Staaten, und wer sie alle sehen wollte, würde einen beträchtlichen Teil seiner Zeit dafür opfern müssen. Mindestens ein paar Wochen, stellte ich mir vor, vielleicht aber auch einen oder anderthalb Monate. Zu diesem Zeitpunkt wäre es mir niemals eingefallen, dass ich eines Tages ein Buch über Hector Mann schreiben würde. Ich war nur auf der Suche nach etwas, das mich beschäftigen könnte, etwas, das mich auf harmlose Weise ablenken würde, bis ich wieder imstande war, meine Arbeit fortzusetzen. Fast ein halbes Jahr lang hatte ich mir dabei zugesehen, wie ich vor die Hunde ging, und mir war klar, dass ich, wenn ich dabei bliebe, sterben würde. Was ich unternahm oder was ich damit zu gewinnen hoffte, war nebensächlich. Inzwischen wäre jede Entscheidung ein Zufallsprodukt gewesen,
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