Das Buch der Toten
1
An dem Tag, als ich die Mordakte bekam, war ich in Gedanken immer noch in Paris. Rotwein, kahle Bäume, die Stadt der Liebe. Alles, was dort passiert war. Und jetzt das.
Robin und ich waren an einem trüben Montag im Januar auf dem Flughafen Charles de Gaulle gelandet. Die Reise war meine Idee gewesen, und in einer Nacht manischer Aktivität hatte ich alles klargemacht, hatte bei Air France den Flug gebucht und Zimmer in einem kleinen Hotel am Rande des 8. Arrondissements reserviert, hatte einen Koffer für zwei gepackt und war die hundertfünfundzwanzig Meilen über den Freeway bis San Diego gerast. Kurz vor Mitternacht war ich in Robins Zimmer im Del Coronado aufgekreuzt, ein Dutzend korallenfarbene Rosen in der Hand und ein Voilà- Grinsen im Gesicht.
Sie stand in der Tür mit einem weißen T-Shirt und einem Wickelrock, das kastanienbraune Lockenhaar offen, die schokoladenbraunen Augen müde, kein Makeup im Gesicht. Wir umarmten uns, dann trat sie einen Schritt zurück und blickte auf den Koffer hinab. Als ich ihr die Tickets zeigte, drehte sie mir den Rücken zu, damit ich ihre Tränen nicht sehen konnte. Vor ihrem Fenster wogte der nachtschwarze Ozean, aber dies war kein Strandurlaub. Sie war aus L. A. geflohen, weil ich sie angelogen und mich selbst in Gefahr gebracht hatte. Als ich sie jetzt weinen hörte, fragte ich mich, ob der Schaden wohl irreparabel war.
Ich fragte sie, was ihr fehle. Als ob ich gar nichts damit zu tun hätte. Sie sagte: »Ich bin einfach nur… überrascht.«
Wir bestellten beim Zimmerservice Sandwiches, sie zog die Vorhänge zu, wir gingen ins Bett.
»Paris«, sagte sie, während sie in einen Bademantel vom Hotel schlüpfte. »Ich kann nicht glauben, dass du das alles gemacht hast.« Sie setzte sich hin, bürstete ihre Haare aus und stand wieder auf. Trat auf das Bett zu, blickte auf mich herunter, berührte mich. Sie ließ den Bademantel zu Boden gleiten, setzte sich rittlings auf mich, schloss die Augen, senkte eine Brust zu meinem Mund herab. Nachdem sie zum zweiten Mal gekommen war, rollte sie zur Seite und verstummte.
Ich spielte mit ihren Haaren, und als sie schlief, zogen sich ihre Mundwinkel in die Höhe - ein Mona-Lisa-Lächeln. In zwei Tagen würden wir mit all den anderen Touristen wie Roboter in der Schlange stehen, in der Hoffnung, endlich einmal einen Blick auf das Original zu erhaschen.
Sie war nach San Diego geflüchtet, weil eine alte Freundin von der Highschool dort lebte eine Kieferchirurgin namens Debra Dyer, die bereits drei Ehen hinter sich hatte und deren jüngste Eroberung ein Banker aus Mexico City war (»So viele strahlend weiße Zähne, Alex!«). Francisco hatte vorgeschlagen, für einen Tag zur Schnäppchenjagd nach Tijuana zu fahren, gefolgt von einem unbegrenzten Aufenthalt in einem gemieteten Strandhaus in Cabo San Lucas. Robin, die sich wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen war, hatte dankend abgelehnt und mich angerufen, um zu fragen, ob ich nachkommen wolle.
Sie war unsicher gewesen, hatte sich entschuldigt, weil sie mich hatte sitzen lassen. Ich sah die Sache ganz anders. In meinen Augen war sie die Geschädigte.
Ich hatte mich durch schlechte Planung in eine schlimme Situation manövriert. Blut war geflossen, es hatte ein Todesopfer gegeben. Es war nicht allzu schwer, dem Ganzen eine rationale Erklärung zu geben: Das Leben Unschuldiger war in Gefahr gewesen; das Gute hatte gesiegt, und ich war schließlich ungeschoren davongekommen. Doch nachdem Robin mit ihrem Truck davongebraust war, hatte ich mich der Wahrheit gestellt: Meine Missgeschicke hatten wenig mit edlen Absichten zu tun, dafür umso mehr mit einem Charakterfehler.
Vor langer Zeit hatte ich mich für die klinische Psychologie entschieden, die sitzende Tätigkeit par excellence, weil ich mir eingeredet hatte, dass ich den Rest meines Lebens mit dem Heilen seelischer Wunden verbringen wollte. Aber meine letzte Langzeittherapie lag nun bereits Jahre zurück. Und nicht etwa, wie ich mir früher eingebildet hatte, weil das ganze menschliche Elend mich ausgelaugt hätte. Nein, damit hatte ich keine Probleme. In meinem anderen Leben bekam ich massenweise menschliches Elend in den Rachen gestopft.
Die eiskalte Wahrheit war: Früher einmal hatte ich mich von der menschlichen Dimension und den Herausforderungen der »Redekur« tatsächlich angezogen gefühlt; aber Tag für Tag in meinem Sprechzimmer zu sitzen, meine Arbeitszeit in Portionen zu je fünfundvierzig Minuten einzuteilen
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