Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wahrgenommen hatte.
Alles ist unnütz, und ich empfinde es so. Was ich erlebt habe, ist mir entfallen, als hätte ich nur zerstreut davon gehört. Was ich sein werde, ruft nichts in mir wach, als hätte ich es bereits erlebt und wieder vergessen.
Ein Sonnenuntergang leichten Kummers umflort mich vage. Alles wird kühler, doch nicht, weil es abkühlte, nein, ich bin in eine enge Straße gebogen, und der Platz liegt hinter mir.
353
Nicht kalt und nicht warm stieg der Morgen auf zwischen den wenigen Häusern außen an den Hängen der Stadt. Ein leichter, hellwacher Nebel zerriß über den schlaftrunkenen Hügeln in konturlose Fetzen. (Nicht die Luft war kalt, nur der Zwang, das Leben wieder aufzunehmen.) Und all dies, dieser taufrische, beschwingte Morgen, war wie von einer Heiterkeit, die er niemals hatte empfinden können.
Die Straßenbahn fuhr langsam hügelab in Richtung der Avenidas. Je näher er den immer dichter stehenden Häusern kam, desto stärker ergriff ihn ein unbestimmtes Gefühl von Verlust. Die menschliche Realität wurde zusehends sichtbar.
In diesen frühen Morgenstunden, wenn die nächtlichen Schatten verflogen sind, nicht aber ihre leichte Last, sehnt sich der Geist, angesteckt vom Augenblick, nach Ankunft und dem alten Hafen in der Sonne. Er wünschte sich weniger, die Zeit stünde still, wie bisweilen für Augenblicke in einer feierlichen Landschaft oder wenn der Mond friedlich auf den Fluß scheint, als vielmehr ein anderes Leben, dann wäre dieser Augenblick vielleicht von einer anderen, ihm verwandteren Farbe gewesen.
Der ungewisse Nebel löste sich mehr und mehr auf. Die Sonne ergriff mehr und mehr Besitz von den Dingen. Die Stimmen des Lebens ringsum wurden deutlicher.
In solchen Augenblicken wünschte man sich, niemals in der menschlichen Wirklichkeit anzukommen, der Bestimmung unseres Lebens. In der Schwebe verharren, unwägbar zwischen Nebel und Morgen, nicht im Geist, sondern im vergeistigten Körper, in einem beschwingten, wirklichen Leben – dies würde mehr als alles andere unser Verlangen nach Zuflucht befriedigen, selbst wenn es grundlos ist.
Jede subtile Empfindung macht uns gleichgültig, nicht nur gegenüber dem für uns Unerreichbaren, nämlich Empfindungen, für die unsere Seele noch zu embryonal ist, für menschliches Handeln, das sich mit tiefem Empfinden deckt, für Passionen und Emotionen, die verlorengegangen sind bei der Verwirklichung anderer Dinge.
Die Baumreihen entlang der Avenidas blieben von all dem unberührt.
Die Morgenstunde endete in der Stadt wie der Hang auf der anderen Seite des Flusses, wenn die Fähre dort anlegt. Während der Überfahrt war das zurückbleibende Ufer von der Reeling aus zu sehen, es entschwand erst mit dem Geräusch des Aufpralls an der Kaimauer. Ein Mann mit bis über die Knie hochgekrempelten Hosen befestigte das Tau an einem Haken, seine Bewegung hatte etwas Natürliches, Endgültiges, Abschließendes. Sie mündete metaphysisch gesehen in meiner seelischen Unfähigkeit, mich weiter einer zweifelhaften Lebensangst zu erfreuen. Die Jungen am Kai sahen uns an wie einen x-beliebigen Menschen, dem der nützliche Aspekt von Anlegemanövern keine derartig unangemessene Empfindung entlocken würde.
354
Die Hitze fühlt sich an wie ein Kleidungsstück, das man ablegen möchte.
355
Ich fühlte mich bereits unruhig. Der Atem der Stille hatte unversehens ausgesetzt.
Da zerbarst jäh ein endloser Tag [58] wie Stahl. Ich duckte mich wie ein Tier über den Tisch, die Hände flach wie nutzlose Krallen auf der glatten Platte. Seelenloses Licht war in Ecken und Seelen gedrungen, lautes Berggrollen war aus nahen Höhen herabgestürzt und hatte mit einem Schrei den dichten Schleier über dem Abgrund zerrissen. Mein Herz stand still. Meine Kehle pochte. Mein Bewußtsein sah nur einen Tintenfleck auf einem Blatt Papier.
356
11 . 6 . 1932
Nachdem die Hitze nachgelassen hatte und ein leichter, zunehmend vernehmbarer Regen einsetzte, entstand in der Luft eine Stille, die der Luft in der Hitze nicht eigen war, ein neuer Friede, in den das Wasser seine eigene Brise mischte. So hell war die Freude dieses Regens ohne Sturm oder Finsternis, daß jene, die weder einen Schirm noch einen Mantel mit sich trugen, und das waren fast alle, bei ihrem raschen Gang über die regennasse Straße lachend miteinander sprachen.
Während eines müßigen Augenblicks trat ich ans offene Fenster meines Büros – man hatte es wegen der Hitze geöffnet,
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