Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
störend, in geringerem Maße.
Revolutionär oder Reformer – sie erliegen dem gleichen Irrtum. Unfähig, die eigene Haltung zum Leben, das alles ist, oder zum eigenen Sein, das fast alles ist, zu beherrschen oder zu ändern, ergreift der Mensch die Flucht nach vorn, indem er versucht, die Anderen und die Außenwelt zu verändern. Jeder Revolutionär, jeder Reformer ist ein Flüchtiger. Kämpfen heißt außerstande sein, sich selbst zu bekämpfen. Reformieren heißt selbst nicht verbesserungsfähig sein.
Ein wahrhaft sensibler und vernünftiger Mensch versucht naturgemäß, wenn ihn Übel und Ungerechtigkeit der Welt bekümmern, zunächst dort gegen sie anzugehen, wo sie am deutlichsten zutage treten, nämlich bei sich selbst. Und damit wird er sein Leben lang beschäftigt sein.
Alles hängt für uns von unserer Weltsicht ab; unsere Weltsicht ändern heißt die Welt für uns verändern, oder anders gesagt, die Welt zu verändern, da sie für uns niemals etwas anderes sein wird als das, was sie für uns ist. Jene innere Gerechtigkeit, die wir aufbieten, um eine Seite flüssig und schön schreiben zu können, jene wirkliche Reform, dank derer wir unser abgestorbenes Empfinden wieder neu beleben – das ist die Wahrheit, unsere Wahrheit, die einzige Wahrheit. Alles übrige auf der Welt ist Landschaft, ein Rahmen für unsere Empfindungen, ein Einband für unsere Gedanken. Und dem ist so, ob es nun die farbige Landschaft der Dinge und des Seins ist – Felder, Häuser, Plakate und Kleider – oder die farblose Landschaft der eintönigen Seelen, die für einen Augenblick mit abgegriffenen Worten und verbrauchten Gesten an die Oberfläche kommt, um sogleich wieder auf den Grund der fundamentalen Dummheit menschlichen Ausdrucks zu sinken.
Revolution? Veränderung? Ich will nur eines wirklich und aus tiefster Seele: die bleiernen Wolken sollen sich verziehen, den Himmel nicht mehr grau einseifen, das Blau will ich wieder sehen zwischen ihnen, eine Wahrheit, sicher und klar, weil sie nichts ist noch will.
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Nichts verdrießt mich mehr als das Vokabular gesellschaftlicher Moral. Allein das Wort »Pflicht« ist mir so unangenehm wie ein ungebetener Gast. Aber die Begriffe »Bürgerpflicht«, »Solidarität«, »Humanität« und andere dieses Kalibers widern mich an wie Müll, den man mir aus Fenstern aufs Haupt kippt. Es kränkt mich, daß jemand auch nur annehmen könnte, diese Begriffe könnten etwas mit mir zu tun haben und ich könnte ihnen nicht nur einen Wert, sondern gar einen Sinn beimessen.
Vor kurzem habe ich im Schaufenster eines Spielzeugladens einige Dinge gesehen, die mich an genau das erinnerten, was diese Begriffe sind: Schein-Teller mit Schein-Gerichten für Puppentische. Der Mensch, sinnlich, egoistisch, eitel, Freund anderer, weil er zu reden versteht, Feind anderer, weil er zu leben versteht, warum sollte dieser Mensch mit sinn- und klanglosen Worten Puppen spielen?
Regieren beruht auf zwei Dingen: zügeln und betrügen. Das Dumme an diesen schillernden Begriffen ist, daß sie weder zügeln noch betrügen. Sie berauschen allenfalls, und das wiederum ist etwas anderes.
Wenn ich etwas hasse, ist es ein Reformer. Ein Reformer ist ein Mensch, der die oberflächlichen Übel der Welt erkennt, sich vornimmt, sie zu heilen, und doch nur die grundlegenden verschlimmert. Der Arzt versucht, einen kranken Körper einem gesunden anzugleichen; was aber in der Gesellschaft krank oder gesund ist, wissen wir nicht.
Ich betrachte die Menschheit als eine der letzten Schulen dekorativer Naturmalerei. Ich sehe keinen wesentlichen Unterschied zwischen einem Menschen und einem Baum; selbstverständlich ziehe ich vor, was für meine denkenden Augen dekorativer und interessanter ist. Ist der Baum Gegenstand meines Interesses, und man fällt ihn, bedrückt mich dies mehr, als stürbe der Mensch. So manch verblassender Sonnenuntergang ist für mich schmerzlicher als der Tod eines Kindes. Ich bin in allem das Fühllose, damit es fühlen kann.
Fast fühle ich mich schuldig, daß ich diese Halbgedanken in einem Augenblick niederschreibe, an dem aus dem endenden Tag ein leichter, zusehends farbiger Wind aufkommt. Nicht der Wind färbt sich, sondern die Luft, durch die er zögernd zieht; da mir aber scheint, als färbe er sich, sage ich dies, denn ich muß unbedingt sagen, was mir zu sein scheint, zumal ich ich bin.
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Alles, was uns im Leben an Unangenehmem widerfährt, wenn wir uns lächerlich machen, gedankenlos
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