Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
sehe, mit den Augen oder Ohren oder irgendeinem anderen Sinn, damit ich fühle, daß etwas wirklich ist. Es kann sogar vorkommen, daß ich zwei unvereinbare Dinge gleichzeitig wahrnehme. Das macht nichts.
Manche Geschöpfe sind imstande, Stunden hindurch zu leiden, weil es ihnen nicht möglich ist, eine Gestalt aus einem Gemälde oder einer Spielkarte zu sein. Auf manchen Seelen lastet es wie ein Fluch, in der heutigen Zeit kein Mensch des Mittelalters sein zu können. Darunter litt ich früher. Heute nicht mehr. Ich bin darüber hinausgewachsen. Doch schmerzt es mich, daß ich mich nicht als zwei Könige in verschiedenen Königreichen träumen kann, die Universen mit unterschiedlichen Räumen und Zeiten angehören. Dies nicht zu können bekümmert mich wirklich. Es schmeckt mir nach Hunger.
Das Unfaßliche zu träumen und zu veranschaulichen ist einer der großen Triumphe, die selbst ich, der ich darin so groß bin, nur selten feiern kann. Jawohl, zu träumen, daß ich beispielsweise zur gleichen Zeit getrennt und unverwechselbar der Mann und die Frau des Spaziergangs eines Mannes und einer Frau am Flußufer bin. Könnte ich mich doch zur gleichen Zeit sehen, mit gleicher Deutlichkeit, auf dieselbe Weise, unvermischt, und beide Dinge mit gleichem Einfühlungsvermögen sein, ein bewußtes Schiff auf einem südlichen Meer und die gedruckte Seite eines Buches. Wie absurd das scheint! Aber alles ist absurd, und der Traum ist es noch am allerwenigsten.
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Wie kann für einen Mann, der wie Dis, wenn auch nur im Traum, Proserpina geraubt hat, die Liebe einer Frau etwas anderes sein als ein Traum?
Wie Shelley habe ich Antigone [31] bereits vor der Zeit geliebt: Alle zeitliche Liebe hatte für mich immer nur den Reiz der Erinnerung an Verlorenes.
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Zweimal in meiner Jugend, die ich als so fern empfinde, daß sie mir wie etwas Gelesenes erscheint oder eine persönliche Geschichte aus fremdem Mund, kam ich in den schmerzlichen Genuß der Erniedrigung zu lieben. Wenn ich aus der Höhe des Heute zurückblicke auf diese Vergangenheit, die ich nicht länger als fern oder nah bezeichnen kann, halte ich es für gut, daß mir diese ernüchternde Erfahrung so frühzeitig zuteil wurde.
Es ist nichts geschehen, bis auf das, was mit mir geschehen ist. Was den äußeren Aspekt dieser tiefinneren Qual angeht, so haben Millionen Menschen sie durchlitten. Aber […]
Sehr früh habe ich – aufgrund einer gemeinsamen und gleichzeitigen Erfahrung meiner Empfindsamkeit und meines Verstandes – die Überzeugung gewonnen, daß das imaginäre Leben, so morbide es auch scheint, Naturen wie mir am ehesten entspricht. Die Fiktionen meiner (in der Folge entwickelten) Phantasie können ermüden, doch sie schmerzen nicht und erniedrigen nicht. Denn unmögliche Geliebte können unmöglich ein falsches Lächeln schenken, verlogene Liebkosungen oder berechnende Zärtlichkeiten. Sie verlassen uns nie, noch hören sie für uns je auf zu sein.
Die großen Ängste unserer Seele sind immer kosmische Katastrophen. Wenn sie über uns hereinbrechen, geraten um uns herum Sonne und Sterne aus ihrer Bahn. In jeder fühlenden Seele wird das Schicksal früher oder später zu einer Apokalypse übergroßer Angst, und Himmel und Welten brechen herein über ihre Untröstlichkeit.
Sich überlegen fühlen und vom Schicksal behandelt werden, als sei man niedriger als die Niedrigsten – wer könnte sich in einer solchen Situation rühmen, Mensch zu sein?
Wenn ich eines Tages einen so genialen Federstrich erlangte, daß alle Kunst in mir vereinigt wäre, schriebe ich das Lob des Schlafes. Ich kenne kein größeres Vergnügen im Leben, als schlafen zu können: das vollkommene Erlöschen von Leben und Seele, das völlige Ausklammern aller Wesen und Menschen, die Nacht ohne Erinnerung noch Illusion, keine Vergangenheit haben noch Zukunft, […]
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8 . 4 . 1931
Dieser ganze Tag, in all der Trostlosigkeit seiner versprengten, gleichgültigen Wolken, war beherrscht von Revolutionsgerede. Derlei Nachrichten, gleich, ob richtig oder falsch, erfüllen mich stets mit besonderem Unbehagen, einer Mischung aus Verachtung und körperlichem Ekel. Es schmerzt meinen Verstand, daß jemand glaubt, er ändere etwas, indem er aufbegehrt und aufrüttelt. Gewalt, welcher Art sie auch sei, war für mich immer eine besonders gravierende Form menschlicher Dummheit. Folglich sind alle Revolutionäre Dummköpfe und desgleichen alle Reformer, wenn auch, da weniger
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