Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
diesen späten Vers- und Prosaschriften weiterführen soll; deshalb habe ich dem vorliegenden Buch einen Haupttitel gegeben, der auch die möglicherweise folgenden Bücher einschließen wird, obwohl ich fürchte, dass »Die Geschichte Mittelerdes« sich als ein etwas zuehrgeiziger Reihentitel erweisen könnte. Auf jeden Fall ist der Begriff »Geschichte« nicht im herkömmlichen Sinn zu verstehen: Es ist vielmehr meine Absicht, vollständige oder weitgehend vollständige Texte zu präsentieren, so dass die Bücher in sich abgeschlossene Einzeleditionen sein werden. Ich setze mir nicht als oberstes Ziel, viele einzelne lose Fäden zu entwirren, sondern eher möchte ich Werke zugänglich machen, die als eigenständig betrachtet werden können und die auch so betrachtet werden sollen.
Dieser langen Entwicklung nachzuspüren, ist für mich von großem Interesse, und ich hoffe, dass es sich auch für andere als interessant erweist, die Sinn für eine derartige Spurensuche haben – ob es sich nun um Änderungen der Handlungsverläufe oder des kosmologischen Grundkonzepts handelt; oder um Details wie beispielsweise das erste Auftauchen des scharfäugigen Legolas Grünblatt in der Geschichte Der Fall von Gondolin . Aber diese alten Manuskripte sind keinesfalls nur für das Studium der Ursprünge von Interesse. Dort ist vieles zu finden, das mein Vater (soweit man dies sagen kann) niemals ausdrücklich ausschied; so sei daran erinnert, dass »Das Silmarillion«, beginnend mit der »Skizze« aus dem Jahr 1926, als Abriss oder Kurzdarstellung geschrieben wurde, das die Substanz viel längerer Werke (ob sie tatsächlich existierten oder nicht) in kleinerem Umfang barg. Der höchst archaische Stil, der zu diesem Zweck entwickelt wurde, war kein Beiwerk: Er besaß vielmehr Weite und große Kraft und war in besonderer Weise dazu geeignet, die magische und unheimliche Wesensart der frühen Elben zu vermitteln, wurde aber auch ohne weiteres dem sarkastischen, höhnischen Melko oder der Beziehung zwischen Ulmo und Osse gerecht. Und gerade diese erhält zuweilen einen komischen Aspekt und wird dann in einer schnellen und lebhaften Sprache vorgetragen, die in der späterengravitätischen Prosa des »Silmarillion« nicht mehr lebendig ist (so fuhrwerkt Osse »in schäumender Geschäftigkeit« herum, als er die Inseln am Meeresgrund verankert; die von den ersten Seevögeln neu in Besitz genommenen Klippen von Tol Eressea »sind voll von Geschnatter und Fischgeruch, und auf ihren Graten werden große Beratungen abgehalten«; als die Küstenland-Elben schließlich über das Meer nach Valinor gezogen werden, fährt Ulmo auf wundersame Weise »hinterdrein in seinem Wagen und trompetet laut, zum Missvergnügen Osses«).
Die Verschollenen Geschichten erhielten, bevor er sie beiseite legte, niemals eine solche Gestalt, dass mein Vater an ihre Veröffentlichung hätte denken können; sie waren experimentell und provisorisch; die zerschlissenen Notizbücher, in denen er sie niederschrieb, wurden gebündelt abgelegt, und viele Jahre warf er keinen Blick hinein. Sie nun in einem Buch zu präsentieren, hat zahlreiche editorische Probleme aufgeworfen. Zum Ersten sind die Manuskripte selbst sehr kompliziert: zum Teil ist der Text schnell mit Bleistift geschrieben und heute stellenweise außerordentlich schwer zu entziffern; es ist ein Vergrößerungsglas dazu erforderlich und viel Geduld, die nicht immer belohnt wird. Aber bei einigen der Geschichten hat mein Vater auch den ursprünglichen Bleistifttext ausradiert und eine revidierte Fassung mit Tinte darübergeschrieben – und weil er zu dieser Zeit gebundene Notizbücher anstelle von losen Blättern benutzte, litt er unter Raummangel; folglich wurden Teilstücke von Geschichten in andere hineingeschrieben, so dass die Entzifferung stellenweise zu einem schwierigen Puzzlespiel wurde.
Zum Zweiten wurden Die Verschollenen Geschichten nicht alle fortlaufend eine nach der anderen im Zuge der Erzählung geschrieben; mein Vater begann, während das Werk noch im Werden war, sogar eine neue Anordnung und Überarbeitungder Geschichten. Der Fall von Gondolin war die erste der Eriol erzählten Geschichten und Die Geschichte von Tinúviel die zweite, doch die Ereignisse in diesen Geschichten finden gegen Ende des Zeitalters statt; andererseits sind die vorhandenen Texte spätere Überarbeitungen. In manchen Fällen ist heute nur noch die revidierte Fassung zu entziffern; in anderen sind die erste und die
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