Das Buch Gabriel: Roman
anfängt, an meinem Geisteszustand zu arbeiten. Ich verschwinde, um für ein paar Stündchen so richtig einen draufzumachen. Weil ich es mir wert bin, ha, ha. In Sachen Vorgehen schlägt mir mein Limbus vor: Sieh dich einfach um. Um uns unseresgleichen anzuschließen, brauchen wir wohl kaum mehr moralische Größe als sie.
Was bedeutet: Carte blanche für Gabriel Brockwell.
Doch eins nach dem anderen. Ich werde den versiertesten Verschwender ausfindig machen, den ich kenne: meinen alten Freund Nelson Smuts, bei dem Wein und Ausschweifung nie weit sind. Mit ihm als Schützenhilfe werde ich meine letzten Stunden zu einer perfekten Miniaturausgabe des Zeitalters machen, das ich hinter mir lasse – zu nichts weniger als einem letzten, mutwilligen Sprung in die Besinnungslosigkeit.
Ach, Dekadenz. Durchs Fenster lächle ich nach draußen. Die Rehabilitationsanstalt fügt sich schwärend wie ein Familiengeheimnis in die Landschaft nördlich von London. Es gibt Grotten, Gebüsche und schleimbedeckte leere Teiche. Die Insassen – so genannte Klienten – laufen verstrahlt durch die Gegend, saugen Laubmoder – so genannte Frischluft – in sich hinein und tragen Hosen, die ihre Beine nicht berühren, sondern wie leer über der falschen Sorte Schuhe schweben.
Mein Zimmer ist nicht abgeschlossen. Der Korridor draußen ist geschwängert vom mechanischen Intimgeruch, den ein Staubsauger hinterlässt. Durch ihn tauche ich hindurch, als die späte Sonne auf das Gebäude trifft, eine Explosion in Gold, die vor dem Dunkel der Eingangshalle Staubgalaxien beleuchtet. Whoosh. Die Altvorderen würden das für ein gutes Zeichen halten. Es scheint, als ob große Entscheidungen Zeichen der heiligen Enthusiasmen auf den Plan rufen, bei jeder folgenschweren Handlung gibt es ein Lichtnicken hier oder ein Schattenrunzeln da. Diese ironischen und launenhaften Götter müssen uns wie ein Fluidum umgeben. Ein Limbus sollte nach ihrem Geschmack sein – und ein dem Tod vorausgehendes Zwischenreich muss sie geradezu ansaugen wie ein Abflussrohr, in das sie massenhaft hineinstrudeln. Wer weiß, ob ihnen das Leben wirklich lieber ist als der Tod, ob sie schon Zeichen geben, während man noch auf den Pfaden eines Abenteuers wandelt, oder ob sie sich ihre Belehrungen für den Schluss aufheben.
Doch auf geht’s – wir werden sehen.
In sich zusammengesackt sitzt ein langgesichtiges Mädchen hinter der Rezeption. Sie beobachtet mich, hofft, dass ich nicht näher komme. Whoosh – durch das Licht hindurch wirbele ich zu ihr. Meine Schüchternheit ist wie weggeblasen. Dass ich sterben werde, macht sie bedeutungslos, weswegen ich so nah an das Mädchen herantrete, bis sich ihr Gesicht ganz in den Schatten zurückzieht, und sie dann nach Stift und Papier frage. Während alles noch so schön klar ist, werden wir uns ein paar Notizen machen – ja! Während das Mädchen herumkramt, sehe ich hinter der Theke Abmeldebögen liegen und greife mir einen. Sie weicht zurück, als ob von meinem Arm ein starkes Kraftfeld abstrahlt. Aber dann begreife ich: Sie ist jemand, der vor allem zurückschreckt. Für sie ist jede Bewegung eine kleine Überraschung. Sie legt mir einen Papierblock hin, ordnet daneben einen Kuli an und gibt sich zurückhaltend, als ich mit vorsätzlich grimmigem Gesichtsausdruck den Abmeldebogen auf der Theke gerade richte. Mit einer schwungvollen Bewegung nehme ich den Kuli zur Hand:
»Jedes Glücksgefühl, das nicht durch Rauschmittel ausgelöst wird«, schreibe ich, »ist falsch.«
Ihr Mund öffnet sich langsam: »O-kay. Vielleicht hole ich gerade mal David oder Rosemary – bei wem sind Sie, bei David oder bei Rosemary?«
Ihr Gesicht scheint länger zu werden, mit jedem Wort schmilzt es Richtung Theke. Das ist ein Salvador-Dalí-Mädchen, man könnte es über einen Ast hängen und ihm beim Zerfließen zusehen.
»Weder noch«, sage ich und schreibe beschwingt weiter:
»Selbsterkenntnis, Mut und Entschlossenheit, die nicht von Rauschmitteln ausgelöst werden, sind – falsch.«
»Ich piepse David gerade mal an.« Sie greift nach einem Hörer.
Ich komme so richtig schön in Schwung, und mein Text fließt aus dem Grund/Gründe der Entlassung -Kasten hinüber in die Betreuerkommentare . »Die Vorstellung«, schreibe ich, »dass die wenigen Versprengten innerhalb der Gesellschaft, die intensiver empfinden als andere und die einer größeren Reichhaltigkeit von Eindrücken ausgesetzt sind, was sie menschlicher macht und was ihr Umfeld
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