Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
ihrem Weg zum Altar und zu Vater Taos erwartete sie die unangenehme und irritierende Aufgabe, über eine Anzahl Leichen ihrer Brüder zu steigen. So aufwühlend der Anblick der ganzen Situation für Vater Taos auch sein mochte, tröstete ihn der Anblick Kyles und Petos’ ein wenig, jedenfalls genug, um seinen Herzschlag zu beschleunigen. Sein Herz hatte in der vergangenen Stunde nur zehnmal pro Minute geschlagen, und so war Vater Taos erleichtert, als es nun wieder an Geschwindigkeit zulegte und in einen stetigeren Rhythmus überging.
Peto war so geistesgegenwärtig gewesen, einen kleinen braunen Becher mit Wasser für Vater Taos mitzubringen. Er achtete sorgfältig darauf, auf seinem Weg zum Altar nichts davon zu verschütten, doch seine Hände zitterten unübersehbar, als ihm die Ungeheuerlichkeit dessen bewusst wurde, was sich im Tempel ereignet hatte. Er war beinahe genauso erleichtert wie Vater Taos selbst, als er diesem den Becher übergab. Der alte Mönch nahm ihn in beide Hände und benutzte den größten Teil seiner verbliebenen Kraft, um ihn an den Mund zu heben. Das kühlende, belebende Gefühl des Wassers in seiner Kehle weckte seine Lebensgeister und war eine beträchtliche Hilfe beim Beschleunigen des Heilungsprozesses.
»Danke sehr, Peto. Und sorge dich nicht – ich werde wieder ganz ich selbst sein, noch bevor der Tag zu Ende gegangen ist«, verkündete er und beugte sich vor, um den leeren Becher auf dem Steinboden abzusetzen.
»Selbstverständlich werdet Ihr das, Vater.« In der zitternden Stimme war keine Spur von Zuversicht, doch wenigstens eine gewisse aufkeimende Hoffnung.
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Taos. Peto war so unschuldig und sorgte sich so sehr um andere, dass es schwer fiel, nicht ein wenig Hoffnung zu schöpfen, nachdem er in die blutigen Überreste des Tempels gekommen war. Er war im Alter von zehn Jahren auf die Insel gebracht worden, nachdem eine Bande von Drogenhändlern seine Eltern ermordet hatte. Durch das Leben bei den Mönchen gewann er inneren Frieden und schaffte es, mit seiner Trauer und seiner Verwundbarkeit ins Reine zu kommen. Taos verspürte ein Gefühl großer Zufriedenheit, dass er und seine Brüder Peto zu jenem wunderbaren, rücksichtsvollen, selbstlosen menschlichen Wesen gemacht hatten, das nun vor ihm stand. Unglücklicherweise würde er den jungen Mönch nun zurückschicken müssen in jene Welt, die ihn seiner Familie beraubt hatte.
»Kyle, Peto, ihr wisst, warum ihr hier seid, nicht wahr?«, begann er.
»Jawohl, Vater«, antwortete Kyle für die beiden jungen Männer.
»Seid ihr bereit für eure Aufgabe?«
»Ganz sicher, Vater. Wären wir es nicht, hättest du nicht nach uns geschickt.«
»Das ist wahr, Kyle. Du bist ein weiser Mann. Manchmal vergesse ich, wie weise du geworden bist. Vergiss das nicht, Peto – du wirst viel von Kyle lernen.«
»Ja, Vater«, sagte Peto demütig.
»Und nun lauscht aufmerksam, denn es bleibt nur sehr wenig Zeit«, fuhr Vater Taos fort. »Von diesem Moment an ist jede Sekunde entscheidend. Der Bestand – die Existenz an sich – der freien Welt ruht auf euren Schultern.«
»Wir werden dich nicht enttäuschen, Vater«, beharrte Kyle.
»Ich weiß, dass ihr mich nicht enttäuschen werdet, Kyle, doch wenn ihr keinen Erfolg habt, bin nicht ich es, sondern die gesamte Menschheit, die ihr enttäuscht habt.« Er zögerte, bevor er fortfuhr. »Findet den Stein. Bringt ihn hierher zurück. Lasst nicht zu, dass er in der Hand des Bösen bleibt, wenn die Dunkelheit beginnt.«
»Warum?«, fragte Peto. »Warum sollte so etwas geschehen?«
Taos legte Peto die Hand auf die Schulter und packte sie mit einer für einen Mann in seinem Zustand überraschenden Kraft. Er war entsetzt wegen des Massakers, wegen der Bedrohung, der sie alle gegenüberstanden, doch vor allem wegen der Tatsache, dass er gar keine andere Wahl hatte, als diese beiden jungen Mönche in so große Gefahr zu schicken.
»Hört, meine Söhne, wenn dieser Stein zur falschen Zeit in den falschen Händen ist, werden wir alle es merken. Die Ozeane werden das Land überfluten, und die Menschheit wird davongespült werden wie Tränen im Regen.«
»Tränen im Regen, Vater?«, wiederholte Peto.
»Jawohl. Tränen im Regen, Peto«, wiederholte Vater Taos sanft. »Wie Tränen im Regen. Und nun müsst ihr euch sputen, denn jetzt ist nicht die Zeit, um euch alles zu erklären. Die Suche muss sofort beginnen. Jede Sekunde, die vergeht, jede Minute, die
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