Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
Die Behandlungen durch den alexandrinischen Arzt haben den einen Teil unserer Ersparnisse verschlungen, die Reisevorbereitungen den anderen. Was also werden wir tun, wenn wir das Buch übergeben haben? Im Land der Väter bleiben?«
» W ie gerne würde ich das, denn davon träumt jeder treue Sohn Jakobs«, erwiderte Isaac nachdenklich. »Aber dort ist kein Friede, Chaya. Die Welt ist in Aufruhr, in Furcht versetzt von den Fanatikern, die unter dem Banner des Kreuzes ritten. Schon sind die ersten Städte des Morgendlandes gefallen. Wie viele weitere werden folgen? Wird es den Kreuzfahrern tatsächlich gelingen, ins Gelobte Land vorzustoßen, an die Geburtsstätte ihres und unseres Glaubens?«
»W as denkst du, Vater?«
»Ich weiß es nicht, Chaya. Aber die Geschichte ist voller unvorhersehbarer Wendungen. Wer vermag zu sagen, was der Herr für uns alle plant? Nur eines ist gewiss: Das Buch von Ascalon darf nicht in falsche Hände gelangen, weder jetzt noch später – sonst ist die Welt verloren.«
Chaya nickte nachdenklich. Unter dem Eindruck des späten Tages, dessen Licht sich allmählich einzufärben begann und das Meer in goldenen Schein tauchte, überfiel sie tiefe Melancholie. Zum ungezählten Mal dachte sie an das, was der alte Isaac im Fieber gesagt hatte – dass das Weltgericht bevorstünde und das Buch der Schlüssel dazu sei. Inzwischen kannte sie das Geheimnis, und wenn sie auch nicht alles verstanden hatte, so war ihr doch offenbar geworden, dass ihr Vater selbst unter dem Einfluss des hohen Fiebers keinesfalls übertrieben hatte.
»Besteht überhaupt noch Hoffnung?«, stellte sie leise die Frage, die sie insgeheim beschäftigte und die im Grunde hinter allen anderen Sorgen stand.
Sie hatte fast erwartet, dass ihr Vater der Frage ausweichen und sich in beredtes Schweigen hüllen würde, aber das war nicht der Fall. »Hoffnung besteht immer, mein Kind«, sagte er zu Chayas Verblüffung. »So jedenfalls habe ich selbst es erfahren.«
»Inwiefern, Vater?«
Isaac schickte ihr einen unmöglich zu deutenden Blick. »Als wir Köln verließen, war ich voller Furcht und Zweifel. D em Versprechen folgend, das ich gegeben hatte, musste ich alles hinter mir lassen, doch meine Tochter widersetzte sich meinem Willen. Statt meinem Entschluss zu folgen, begleitete sie mich auf meiner Fahrt ins Ungewisse, und ich gestehe, dass ich darüber mit Gott haderte. Inzwischen jedoch habe ich erkannt, dass er mir in seiner unendlichen Güte und Weisheit einen Begleiter geschickt hat, wie ich ihn mir treuer und besser nicht wünschen könnte.«
»Einen Begleiter?« Chaya brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie selbst gemeint war. »Dann bist du froh, dass ich hier bin?«
»Nein, meine Tochter.« Er schüttelte den Kopf. »V iel lieber hätte ich dich in Frieden leben sehen, einen jungen Mann heiraten und mit ihm eine Familie gründen, sodass ich mich an meinen Enkeln und Urenkeln hätte erfreuen können. Dies war der Plan, den ich für dich gefasst hatte. Ich habe selbst dann noch daran festgehalten, als die Zeichen der Zeit sich längst geändert hatten – dabei hätte der Tod deiner Mutter mir klarmachen müssen, wie ausgeliefert wir alle dem Schicksal sind und wie abhängig vom Wohlwollen des Herrn. Deshalb – und nur deshalb – halte ich an meiner Mission fest, so verloren sie mir auch erscheinen mag. Gott ist mit uns, Chaya, sonst hätte ich das Fieber nicht bezwingen können. Und je eingehender ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass er auch dir den Weg gewiesen hat.«
Chaya horchte auf. »Du glaubst, es war meine Bestimmung, dich zu begleiten?«
Isaac erwiderte nichts. Das Lächeln, das über seine ausgezehrten Züge huschte, war Antwort genug.
»Aber wenn du so fühlst, Vater, wenn du der Ansicht bist, dass es Gottes Wille ist, dass ich hier bin, warum weihst du mich dann nicht in das Geheimnis ein? Ich könnte dir helfen, die Bürde zu tragen, und deine Sorgen mit dir teilen.«
»Nicht in diesem Fall, meine Tochter.« Isaac seufzte. »Manche Furcht pflegt sich zu halbieren, wird sie mit jemandem g eteilt – diese jedoch würde sich nur verdoppeln. Du würdest ebenso schwer daran tragen wie ich, und das möchte ich dir ersparen.«
»Ich weiß, Vater. Aber …« Chaya biss sich auf die von der Trockenheit rissigen Lippen, suchte nach passenden Worten. Für einen Moment hatte sie gehofft, die Situation zu ihren Gunsten beeinflussen und ihren Vater dazu bringen zu können, ihr das
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